Greifswald (SPA): Der um halb Elf avisierte Termin ist seit einer Dreiviertelstunde verstrichen. Ich blicke ein weiteres Mal ungeduldig auf die Uhr, die direkt über dem Fahrstuhl hängt und versuche mich mit einer neuerlichen Prophezeiung. Dass der Aufruf meines Namens binnen der nächsten fünfzehn Minuten erklingen wird. Neue Richtzeit: 11:30 Uhr.
Ich lege mein kleines Notizbuch beiseite und schaue mich auf den Tischen der großzügig gestalteten, aber wegen des Klinkerbodens irgendwie kalt wirkenden Wartefläche nach etwas Lesbarem um. Zur Auswahl stehen Stadtmagazine, Zeitschriften und eine Unmenge Flyer zu allerlei Krankheiten sowie deren hier im Klinikum angebotenen Behandlungsmethoden. Kann man lesen, muss und sollte man aber nicht. Just in dem Moment, als ich in einem Akt der Verzweiflung eine „Brigitte“, Jahrgang 1916, aus dem Stapel ziehe, geht meine Prophezeiung in Erfüllung.
Eine Schwesterpraktikantin steht an der elektronischen Tür der Station bereit, um mich abzuholen und eiligen Schrittes in die heiligen Gemächer der Behandlungsräume zu führen. Gemäß ihrer gehauchten Anweisungen darf ich mich dort mit entblößtem Oberkörper auf einer mit blütenweißem Papier belegten Liege ausstrecken. Dabei bleibt der ehemals aalglatte Bezug trotz aller angestrengten Bemühungen nicht ganz knitterfrei. In meiner neuen Sichttotale befindet sich nun die wenig romantische und unruhig klickende Neonbeleuchtung. Ich lausche nebenher einem stupid summenden Geräusch aus dem Nachbarzimmer, dämmere ein bissel dahin und schnellmeditiere für wenige Sekunden.
Nach etwa zehn Minuten drehe ich mich auf den Bauch und entdecke den zentral auf dem Tisch platzierten Flachbildschirm eines Computers. Auf diesem wird nach einem Passwort gefragt. Mit meiner ausgestreckten linken Hand und verträumten Augen betätige ich die Tastatur und versuche es mit „Bela Woda 02999“. Nachdem eine ominöse Fehlermeldung erscheint, tippe ich dieses Passwort nochmals ein.
Bei diesem Versuch ohne Leerzeichen: „BelaWoda02999“.
Ich entferne die erneute Fehlermeldung durch Herunterfahren des Computers. Und ernenne mich mit sofortiger Wirkung zum Datenschutzfachmann im medizinischen Dienst. Kurz: DmD. Der DmD dreht sich zurück in die Rückenlage und beginnt mit stochastischen Berechnungen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für die Verwendung eines Passwortes, in dem ein Arzt aus der vorpommerschen Provinz den sorbischen Namen der Stadt Weißwasser mit der seit der Wende gültigen Postleitzahl des Dorfes Lohsa kombiniert? Die Minuten verstreichen. In die angestrengte Suche nach einer geeigneten Formel, quasi kurz vor der wissenschaftlich fundierten Entwirrung der Aufgabe, platzt die Schwesterpraktikantin. Sie fragt den DmD, ob es ihm, der da seit mehr als einer halben Stunde mit entblößtem Oberkörper auf einer mit blütenweißem, ehemals knitterfreiem Papier bezogenen Pritsche liege und auf einen Fadenzug warte, bereits fröstele. Sie könne ihm für diesen Fall auch eine wärmende Decke reichen.
Aus Kurzhaarkamelhaar vielleicht?
Virtueller Lacher, denn der DmD ist kein Privatpatient. Er hebt verneinend winkend den von Hühnerhaut übersäten Arm, dankt und äußert nach einem Blick auf die Wanduhr, dass er nun, wo es bereits weit nach 12 Uhr sei, doch lieber fadenlos auf dem Nachhauseweg sein würde. Keine Antwort. Aber ihr Schmunzeln tröstet ihn. Nun wandern ihre blauen Augen aufs technische Gerät. In einem erstaunten Tonfall führt sie ein gut hörbares Selbstgespräch: „Das ist ja komisch! Hatte ich den Computer nicht schon hochgefahren?“. „Aaahh!“, mische ich mich ein, „Ich glaube, der hat sich vorhin mit einem lauten Knall selbst ausgeschaltet.“ „Kann ich den jetzt wieder anmachen?“, antwortet die Schwesterpraktikantin. „Natürlich. Aber dann fragt er Sie bestimmt nach einem Passwort.“
Sagt der Datenschutzfachmann im medizinischen Dienst.
Kommentar schreiben
DirkNB (Donnerstag, 05 Oktober 2017 20:19)
Ok, es passt nicht ganz, aber die Bedeutung des Wortes "Sprechstunde" ist bekannt? 50 Minuten warten und 10 Minuten beim Arzt. Dann war das oben also eine Doppelsprechstunde. ;-)