Opfer dieses Liedes

 

 

Bevor es wieder etwas Neues von Brycke gibt, heute nochmal ein ReBlog.

Robert und ich holten beim letzten Exil-Musikquiz in der Kategorie "Schlager", bei der Interpret und Titel eines angespielten Stückes "Kultur"Gut erkannt und notiert werden sollten, sensationelle 8,5 von 10 möglichen Punkten. Bei aller gesunden Erfolgsorientierung, die solch ein Quiz mit sich bringt, eine Peinlichkeit, die ich seit Tagen mit mir herumschleppe. Ein therapeutischer Ansatz ...

Greifswald (SPA): Zu gegebenen Anlässen bestaunen manche Freunde, dass sich einer in ihrer Mitte integriert hat, der „Losing my Religion“ von R.E.M. oder „Otherside“ von den Red Hot Chili Peppers hört. Damit nicht genug: gar danach tanzt. Meine solistischen Darbietungen auf einer Tanzfläche, die bis soeben zu flotten Hits von Roland Kaiser durch sechzig tippelnde Beine mehrfach vermessen und in der molekularen Zusammensetzung unterer Luftschichten durch vielfältige Wurfelemente und Pirouetten regelrecht zerwirbelt wurde, hinterlassen beim Publikum seriöses Unverständnis. Schlimmer noch: Bei Männerwahl erstirbt der Solidargedanke und es ducken und/oder schnäuzen sich die Damen!

 

Der Hobby-Discjockey animiert gewöhnlich die Gäste mit einem spartenmäßig recht eindimensionalen Konservenangebot zum Schütteln. Zu seinen kundenorientierten Höflichkeiten gehört es, mich bei Eintritt in den betanzten Saal stets mit dem folgenden Satz zu begrüßen: „´ Live wirespiele ich später noch.“. Die unendliche Vielfalt von Rockmusik beginnt bei diesem Dienstleister bei A und endet bei C. AC/DC. Und das später in der Begrüßung bedeutet: in den Morgenstunden.

 

Anno 2004 erscheinen plötzlich De Randfichten am deutschen Musikfirmament. Bis zum Auftauchen dieser Mittelgebirgscombo habe ich noch nie einen Discjockey erlebt, dem es gelingt, bei einer Tanzveranstaltung drei- bis achtmal denselben Titel in einer schier endlos wirkenden Schleife zu spielen. Ohne dass sich Teile des Publikums abwenden und sich in irgendwelche Ecken, besser gleich Nebenräume, verziehen. Das Lied „Der Holzmichl“ jedoch kollektiviert die Massen, zaubert ihnen ein glückliches, gar seliges Lachen ins Gesicht. Es lässt sie mit diesem Lachen ein inbrünstig ausgeworfenes „Ja, er lebt noch!“ kombinieren, das mehrmals wider aller Gesetze der Lärmempfindlichkeit in die ohnehin rücksichtslos beschallte Räumlichkeit gebrüllt wird. Dieser Hit regt seine Opfer an, dutzendfach in Windeseile von den Sitzelementen in den Stand zu hüpfen und dabei die Arme mit solchem Enthusiasmus in Richtung der getäfelten Decke zu schwingen, dass so manche am Oberhemd platzierte Knopfnaht an die ihr gesetzten Elastizitätsgrenzen stößt.

 

Alle sind dem Holzmichl verfallen. Der 30-jährige Lausbub, dem ich bei Pils vom Fass, Cola-Whisky und crossen Chicken Wings versichere, dass es sehr wohl auch Pop- und Rockmusik außerhalb Deutschlands und extern der elterlichen Stereoanlage gäbe. Die 44-jährige Risikoschwangerschaft, Angestellte der örtlichen Sparkassenfiliale, die sich von ihrem Angetrauten auf dem Gipfel ihrer Karriereplanung den eigenen Enkelsohn implantieren ließ. Die 63-jährige mit dem künstlichen Kniegelenk oder auch der 71-jährige, dessen Herzschrittmacher zwei Wochen vor der Geburt des Holzmichls ein viertes Mal ausgetauscht werden musste. Alle hüpfen.

 

Vom holzmichl-präventiven Ausdauerpullern zurückgekehrt, fühle ich mich orientierungslos. Ich kann nicht zuordnen, ob die momentan vernommene Abspielung dieses von mir völlig unterschätzten Stückes Kulturgut immer noch jene bei fluchtartigem Verlassen des Saales oder aber eine neuerliche, absichtlich über die Repeat-Taste initiierte ist. Da ich kein Spielverderber bin, füge ich mich der vorgefundenen Dynamik. 

 

Und hüpfe mit.

 

Hüpfe, bis mir Conny P. bei einem völlig überdrehten Armaufschwung mein frisch geliefertes Mixgetränk aus der zum Mund geführten Hand mittig in den Schritt meiner aus hundert Prozent Baumwolle gearbeiteten grünen Ausgehhose schüttet. Damit passiert die Schüttung definitiv in eine Lokalität, die unter einer sanitär-ästhetischen Betrachtungsweise nach einem Toilettenbesuch, egal ob präventiv oder durch ein Blasensignal erzwungen, alles andere als eine angenehme ist. Zudem ist sie keine, die bei geschätzt verbleibenden zwanzig Minuten bis zur Intonation von „Live wire“ in mir die Begier auf ein lässig in den Saal gerocktes Solo aufkommen lässt. So ordere ich einen neuen Drink, Zettel und Stift. Das Getränk lasse ich auf Conny P. anschreiben und notiere dann auf dem Papier in gut leserlichen Druckbuchstaben:

 

 „Wage es nicht, binnen der nächsten zwei Stunden AC/DC zu spielen und das gute Stück mit dem Klassiker ´ Extra für Hannes!`  anzumoderieren“.

 

Dann warte ich geduldig auf eine refrainferne Hüpfpause und winke die anwesende Postzustellerin Gabsi Müller zu mir. Nach einem von mir diskret geflüsterten Verweis und Gabsis indiskretem Blick auf die frisch benässte Lokalität lenke ich deren minder druckreifen Kommentar durch einen Fingerzeig auf die schon wieder völlig entfesselt hüpfende Conny P. in meiner unmittelbaren Tischnachbarschaft. Was bei der Frau von der Post einen sofortigen Adresswechsel für diverse Schimpfwörter induziert. Alles normal! Mit Gelächter versandt, mit Gelächter empfangen und quittiert.

 

Sodann lasse ich die Notiz unfrankiert von Gabsi zum DJ transportieren. Jener überfliegt in Eile die News aus dem Gästeraum. Dem anschließenden Blickkontakt folgt eine schleunige Privataudienz des Randfichten-Wiederholungstäters beim Absender. Ich weise mit dem rechten Daumen auf den Schritt und den dort mithin auf die Größe einer Discokugel angeschwollenen Fleck in einem schattig-oliven Grün. Mit dem linken Zeigefinger identifiziere ich zeitgleich auch für ihn den menschgewordenen Flummi neben mir als Verursacherin dieses nassen Schattens. Es folgt ein verständnisvolles Nicken, dann begibt sich der DJ wieder hinter seine Anlage und lässt ohne Kommentar den „Holzmichl“ ein weiteres Mal anlaufen.

 

Einige Monate nach meiner ersten Kollision mit diesem sportiven Lied tauchen im Online-Markt Holzmichl-Masken für fehlbeschallte Endverbraucher auf. Für das Gesicht. Prompt wird die hüpfende Masse auf den folgenden Partys durch die Tanzeinlagen eines Maskenmannes, die sich an der komplexen Randfichten-Lyrik orientieren, zu Höchstleistungen in der ohnehin schon beachtlichen Hüpffrequenz gepeitscht. Animiert von einem Maskenmann, der sich zusätzlich in einem einheimischen Forstbetrieb holzmichlgemäß einkleiden ließ:

 

Stiefel, Lederhosen, kariertes Hemd, Hut mit Feder dran, Plastikbeil.

 

Gemäß einiger mimisch-taktischer Überlegungen ziehe ich es in dunklen Momenten ebenfalls in Erwägung, den käuflichen Erwerb einer solchen Gesichtsmaske anzustreben. Schließlich hege ich doch nur den innigen Wunsch, die hüpfwütige Meute möge meine Tränen nicht sehen. Letztendlich entsorge ich dieses Vorhaben im brainalen Papierkorb. Denn einerseits lebe ich sehr gut damit, dass meine latente Wangennässe durch die mich umgebenden Bürger als Tränen der Freude interpretiert wird. Andererseits bietet das an- und ausdauernde Wischen der Augenränder ein glaubhaftes Alibi für meine konstante Hüpfverweigerung. Wer verspürt schon Lust, sich beim Jaerlebtnochhüpfen mit den Daumen ins Auge zu stechen? Ich nicht. Während des Wischens zische ich:

 

„Ja, ich leb noch.“. 

 

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