Gorzow in Westpolen: Der Zeuger des Flusses (sitzend) auf dem Podest.
Gorzow/Greifswald (SPA): Auf meinem Weg vom östlichen Baltikum zurück nach Greifswald, der mich an den letzten beiden Tagen durch das ländliche Polen führte, mache ich Station in Gorzow. Hier, gleich an der Uferpromenade, die den Fluss Warta über einige hundert Meter begleitet, lasse ich mich nieder. Strecke die Beine auf einer polnischen Wiese aus, hebele den Kronkorken von einer Flasche Tyskie, nehme einen ersten Schluck und lass mich rückwärts in das sonnengetrocknete Gras fallen. Ich drehe mich auf die Seite, grabe im Rucksack nach meinem Buch und sehe IHN.
ER sitzt keine 50 Meter entfernt direkt am Fluss auf einem Podest. Bei freiem Oberkörper nur mit einer kurzen Hose bekleidet hat er seinen Blick in eine Zeitung vertieft. Ich fühle vielleicht 20 Grad und sofort stellt sich bei diesem Anblick der Flaum an meinen Händen senkrecht und es durchhuscht mich ein leichtes Frösteln. Ich beobachte IHN, vorsichtig und auf einen Arm gestützt, damit ER es nicht bemerkt. Dann bemerke ich etwas: ER bewegt sich nicht.
Neugierig rappele ich mich noch oben und beginne, desinteressiert zu schlendern. Ich schlendere in SEINE Richtung. Im Zick-Zack. Näher heran erkenne ich einen Hut und die Kopfhörer. ER hört also auch nichts. Dann stehe ich an der flachen Mauer zehn Meter seitlich von IHM und pirsche mich rückwärtig heran. Mittels kleiner Sidesteps und immer den starren Blick auf das Wasser, das einige Kilometer westlich in die Oder fließen wird. Dann bin am Podest. Auf dem Podest. Schaue über seine Schulter und sehe: Plastik.
Na toll! Ab sofort bewege ich mich wieder normal. Hüpfe vom Podest, laufe einmal herum, wende, laufe noch einmal herum, beschaue mir den Alten von allen Seiten und bemerke dann die Inschrift: Genius Fluminis 2015. Der Zeuger. Der Herr. Der Schützer des Flusses.
Spannend.
Im steten Bemühen des Menschen, Orte nach deren Eignung zu optimieren, hat im Laufe der Jahrtausende der sachlich-funktionale Nutzen die Oberhand gewonnen. Dass ein solcher Ort auch Geist und Seele besitzt, scheint hingegen in Vergessenheit geraten zu sein. Schon in der antiken Persönlichkeitstheorie wird der Genius als das unbewusste Ich, das vitale Prinzip dargestellt, dass gemäß der zeitlichen Vorstellung im Kopf des Menschen wohnt und den Tod des Körpers überlebt. In den archaischen Kulturen, egal ob Kelten und Germanen, ob Griechen oder Römer, Hebräer oder Inder, galt der Kopf als Sitz von Seele und Lebensgeist, Zeugungskraft und Persönlichkeit, aller göttlichen "Macht". Und deshalb als heilig.
Die Römer gingen dazu über, erst jedem Ort der natürlichen Landschaft, später jeder menschlich geschaffenen Struktur, einen Genius Loci zuzuordnen. Eine Art Schutzgeist, der Berge (monti), Kornspeicher (horrei) oder ganze Städte (Genius Urbi Roma) vor allem Bösen, Unreinen und Zerstörerischen bewahren sollte. Jede archaische Kultur schickte Schamanen oder Schamanenähnliche, denen die Menschen von jeher einen hohen natürlichen Genius zuschrieben, zuerst in die ausgesuchte Wohnhöhle. Die prüften und/oder reinigten die Lokalität. Erst nach den Worten „Energetisch ist hier alles in Ordnung“ (was natürlich in eine zeit- und anlassgemäße Sprache gekleidet wurde) begannen die Menschen, ihre Sachen in die Schränke zu räumen. So einfach.
Ich schaue nochmal in SEINE Zeitung, klopfe ihm dankend auf die Schulter, springe vom Podest und schlendere zurück auf die Wiese. Zu meinem Tyskie.
Kommentar schreiben