Bei Kevin im 14. Haus: Einstein in Schrift und Bildern
Greifswald (SPA): Dezember 2038. Ich bin auf der Suche nach dem letzten Gymnasiasten, der sein Abitur mit der Note „Eins“ ablegen wird. Nach einer Beschwerde des bayrischen Kultusministeriums aus dem Jahre 2016, in dem vor allem die Nordländer wie Berlin, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern dafür kritisiert wurden, Schüler nicht zu fordern und ein „Sehr gut“ allzu leichtfertig zu verteilen, kam Bewegung in die Bildungsrepublik Deutschland.
Die Kultusministerkonferenz beugte sich dem Druck aus Bayern und beschloss, die Note „Eins“ peu á peu zugunsten der neuen Note „Sieben“ abzuschaffen. Heute ist dieser Beschluss quasi umgesetzt und gilt als erster Meilenstein für die in 450 Jahren erwartete Abschaffung des föderalistischen Bildungssystems. Ebenso der inklusive Gedanke, der es ermöglicht, dass bis zu 90 Schüler eines Jahrgangs gleichzeitig von einer quereingestiegenen Betreuungskraft in einem Hörsaal unterrichtet werden. Die Beschulungszeiten haben bei einer täglichen Spanne von 7 bis 19 Uhr einen Auslastungsgrad in der Aufbewahrung von sensationellen 50 Prozent erreicht – ein Wert, der noch vor zehn Jahren als völlig utopisch deklariert wurde. Zudem führte die Digitalisierung in der Bildungslandschaft dank Breitbanderschließung des ländlichen Raums dazu, dass Schüler und Schülerinnen selbst in den letzten Ecken der Republik nach Schulschluss mit Hausaufgaben zum Zwecke einer sinnvollen Freizeitgestaltung versorgt werden.
In Dreizehnhausen, einem Nest bei Greifswald, 14 Häuser/19 Einwohner, werde ich fündig. Kevin Aschmotat verpasste im Sommer krankheitsbedingt die Prüfungen und besitzt nun als Nachzügler beste Chancen, entsprechend seiner bisher erfolgten Leistungsnachweise, das Abitur mit 1,0 abzuschließen. Little Einstein wird er im Dorf genannt und so ist es nicht verwunderlich, dass ich in seinem Jugendzimmer nicht nur ein Poster des großen Wissenschaftlers aus dem letzten Jahrhundert angepinnt finde. Sondern auch originale Einstein-Kreideschriften auf einem hölzernen Scheunentor, das Kevin über Ebay 3.0 zu einem Spottpreis ersteigert hat.
Er büffelt für das letzte Examen – ein fachübergreifendes in Mathematik und Geschichte: „Die Anwendung Ganzer Zahlen bei der numerischen Sortierung geschichtlicher Ereignisse“. Ganz im Sinne einer zukunftsorientierten Kompetenz wie Merkfähigkeit. Kevin hat sich im Internet Eselsbrücken herausgesucht: „333 – bei Issos Keilerei“ oder „753 – Rom schlüpft aus dem Ei“. Auch das eine Kompetenz. Ich schaue ihm eine Weile zu und werde zuversichtlich: Er wird es schaffen.
Dann verabschiede ich mich. Fröhlich rufe ich ihm zu: „2038 – Kevin hat die letzte Eins gemacht.“ „Fantastisch“, ruft der letzte Einser-Abiturient.
Ja. Fantasie.
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