Rot Kreuz

 

Meine Kernkompetenz: Frauen einwickeln

 

 

Greifswald (SPA): Als ich noch kurz um die Ecke gehe, um die Umluft zu nikotinisieren, läuft sie freundlich grüßend an mir vorbei. Marineblaue Hose, marineblaue Jacke und darunter eine weiße Bluse, von deren Kragen mich das Corporate Design des Deutschen Roten Kreuzes grüßt. In den Händen transportiert sie vier prall gefüllte Taschen mit weiterbildungsrelevantem Equipment – eindeutig identifizierbar an orangenen Warnwesten, die aus einer der Tüten quellen. Schon prophezeie ich erfüllend selbst.

 

15 Minuten später hat sich Bea Wilmen dem Auditorium, bestehend aus neun Auffrischlern des Erste-Hilfe-Lehrgangs, vorgestellt. Frührentnerin. Junggeblieben. Dynamisch. Alle Stufen der Karriereleiter wundgetreten. Ausgestattet mit einem Qualitätsmotor aus deutscher Produktion, den sie nun trotz gelaufener 400000 Kilometer mit hoher Drehzahl vorfährt. Für eine solche Frau wurde das Generationenwohnen erfunden - falls es die Biologie zulässt, würde sie einen solchen Laden über die nächsten 100 Jahre schmeißen. Mit oder ohne rotem Kreuz am Kragen.

 

Eine erste Folie ihrer PowerPointPräsentation macht Munkeln. Wir befinden uns in einer Veranstaltung, die bei didaktischer Struktur und stringenter Kenntnisauffrischung das Potential in sich trägt, gegen 13 Uhr beendet zu sein. Zumal nur 60 Prozent der angemeldeten Kundschaft erschienen ist. Nun prangt uns von der Leinwand ein „16 Uhr“ in großen Lettern entgegen. Natürlich in Rot. Schüchternen Protest, dass die Anwesenden doch alle zwei Jahre mit den anstehenden Inhalten konfrontiert werden, wischt Bea Wilmen auf eine junggebliebene, dynamische Art und Weise forsch beiseite. Bevor sie ins Detail geht – frontale Unterweisung mit Anekdoten von jeder einzelnen Stufe der Karriereleiter.

 

Gegen zehn Uhr wird es praktisch. Wir hüllen unsere Oberkörper in die mitgebrachten Warnwesten und gehen nach draußen. Zwei Warndreiecke, zuvor in feinmotorischer Kleinarbeit zusammengesteckt, sollen landstraßengemäß in die Spiegelsdorfer Walachei gestellt werden. Frau Wilmen agiert bei der Auftragsvergabe genderneutral: Mann und Frau. Diese schreiten nun geschätzte 50 Meter ab (beim Auftrag „Autobahn“ hätten sie die Koitenhägener Straße queren müssen), bevor die anwesenden zwei Apothekerinnen mit einem Fünfmetermaßband und im Rotierschritt hinterherrotieren, um die Schrittgenauigkeit zu evaluieren. Sensation: die Frau ist näher dran.

Nach einigen in einem Auto simulierten Bergungswürgegriffen widmen wir uns im Schulungsraum der berüchtigten Beatmungspuppe. Bea Wilmen hat nur eine bereitgelegt und verweilt sehr lange bei den Punkten Eins und Zwei der Vier-Schritt-Methode: Erläutern und Vormachen. Dann erzeugt sie mit dem Übungsauftrag ein erneutes Munkeln: fünfmal zwei Beatmungsstöße, fünfmal 30 Herzdruckmassagen, jeder. Meine Nachbarin macht einen ausgeklügelten Vorschlag zur Zeitkompression: „Können wir das auch zu zweit machen?“. Frau Wilmen gibt sich gönnerhaft, bejaht und schreitet unter der Ankündigung, eine passende Begleitmusik dabei zu haben, an den Techniktisch. Es ertönt ein schleichender Technobeat mit Free Jazz–Elementen, dessen Melodie sich alle 11 Sekunden in einer Schleife wiederholt. Während sich die Kursleiterin in Trance begibt und dem ersten Beatmungspärchen zuzählt, machen sich bei mir und anderen Konsumenten der raumfüllenden Rhythmik Kopfschmerzen breit. Die werden verstärkt, als Bea Wilmen nach 150 Herzdruckmassagen den nächsten Arbeitsauftrag an zwei kniende Menschen richtet. Ein Auftrag, der meine zeitkompressionsorientierte Nachbarin mit leisem Stöhnen in sich zusammensacken lässt.

 

„Jetzt tauschen sie beide ihre Plätze.“

 

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