Der Sorbenfinger

 

 

Greifswald (SPA): Im Klinikum streife ich mir den hochgradig unerotischen Operations-Schlüpfer über, eine der Todsünden des elastisch-großmaschigen Netzdesigns, schlüpfe in das hinten offene OP-Hemd und klettere auf das bereitstehende Transportbett. Die hinzugeeilte Stationsschwester verabreicht mir die obligatorische LmaA-Tablette. Nun sehe ich mit arg begrenztem Optimismus einer persönlichen Premiere entgegen. Einer Plexus-Anästhesie. Dies bedeutet: ein lokal wirkendes Betäubungsmittel wird unter Verwendung eines spitzen Gegenstandes durch die ach so empfindliche Achselhöhle in den Körper transferiert.

 

Was ist solch ein simpler präoperativer Vorgang doch für ein genüsslicher Spaß für die Krankenschwestern, die mich in trauter Zweisamkeit anästhesieren. Wobei zwanzig Jahre Berufserfahrung bei den beiden Repräsentantinnen der empathischen Patientenbetreuung zur Überzeugung geführt haben, dass dem männlichen Geschlecht die vergleichsweise weicheren Konsumenten achselhöhlenvenös verabreichter Betäubungsmittel angehörig sind. Und ich bin wahrlich keiner von den ganz harten Frauen, die es gemäß dem Vernehmen zweier Anästhesieschwestern im Überfluss geben soll. Solche, die sich die narkotisierende Dosis unverdünnt binnen zweieinhalb Sekunden mit einer Dreiviertelzollkanüle in die versteckten Achselvenen drücken lassen. Nein. Diesen Anspruch besitze ich nicht und habe Gleiches nie behauptet. Im Gegenteil. Ich bin sehr dankbar für kleine, süffisant dahingesäuselte Ankündigungen wie:

 

 „Jetzt piekt es gleich ein bisschen.“

 

Nachdem die Krankenschwestern sichtlich amüsiert meine blasse Gesichtsfarbe bemerken, diese im tuschelnden Zwiegespräch und mit einem interessanten Spektrum von Augenaufschlägen kommentieren, mir den in fingerdicken Rinnsalen fließenden Schweiß mittels grober Handbewegungen und steriler Tücher aufmerksam von Stirn und Schläfen tupfen, wischen und reiben, sie sechzehnmal unglaubhaft versichern, dass es wirklich nicht Aua tun wird und ich keine Angst zu haben brauche, weil das hier sei ja für sie nicht das erste Mal, auch wenn über zwanzig Jahre in dem Beruf deutlich aufgezeigt haben, dass Männer ... geht es los.

 

Mein rechter Arm schnellt vom Kissen in eine vorbildlich gestreckte Senkrechte, negiert vorübergehend die vertrauten Gravitationskräfte und fällt dann ungebremst zurück in die Daunen. Wow! Da muss ich gute 45 Jahre auf diesem Planeten zubringen, um zu erfahren, dass der das kann. Und …schon wieder! Während sich die an jenem sabotierten Arm positionierte und mit einer Spritze bewaffnete (an dieser Stelle möge der Wortstamm WAFFE eine besonders aggressive Betonung durch den Leser erfahren) Angestellte des Hauses über jeden von ihr gesetzten Treffer diebisch freut, bemerkt die zu meiner Linken stehende Schwester, dass ich jedes unkontrollierbare Zucken des Armes durch ein relativ zeitgleiches Zucken des rechten Beines ausgleiche. Ich registriere schadenfreudiges, gar boshaftes Gelächter.

Es wäre wahrlich Verschwendung, in den Gedanken Energie zu investieren, eine Frau könne eine solche Entdeckung kommentarlos hinnehmen. Nun denn: „Ach! So etwas habe ich selbst bei einem Mann noch nie erlebt.“ Zustimmendes Nicken von der gegenüberliegenden Seite. „Warum zucken Sie denn mit den Beinen?“. Und vier Ohren spitz.

 

Gute Frau! Bleiben wir bei der Wahrheit! Es war nur ein Bein, das gezuckt hat.

 

Es ist nicht die Zeit, auf solch arithmetische Feinheiten zu verweisen. Denn die soeben formulierte Frage ist das Moment, sich zeitnah für die während der Behandlung erlittenen männerfeindlichen Bemerkungen zu revanchieren. Ich rücke ein wenig die Schultern gerade, strecke den Kopf aus der Defensive und sage: „Dann hatten Sie hier noch nie einen Sorben auf dem Tisch.“ Mit dieser relativ eindimensionalen Aussage ist die unersättliche Neugier des anwesenden weiblichen Personals geweckt. Auf solch außergewöhnliche Weise, dass sich deren für neue Informationen zuständigen Kanäle in doppelter Überschallgeschwindigkeit schleusenartig öffnen. Fehlt nur der Knall. Aus unmittelbarer Nähe flöten einige Flötentöne: „Einen Sorben? Was ist denn das?“

 

„Sorben …“, und eine kleine, feine, die zum Greifen nahe Spannung fördernde Pause, „… erkennt man am Sorbenfinger.“

 

Die damit initiierten Fragezeichen in den Antlitzen zweier total berufserfahrener Krankenschwestern, die offensichtlich erstmals einen Sorben, korrekt gesagt, einen, der sich als solcher ausgibt, via Plexus zu anästhesieren haben, beantworte ich mit einer Geste, als würde ich ein Glas Wasser trinken. Ich visualisiere im Anästhesiebett liegend den anatomischen Steckbrief eines Angehörigen des sorbischen Volkes. Genau auf jene Weise, wie ich ihn täglich am häuslichen Speisetisch präsentiere und wo der Begriff Sorbenfinger aufgrund meiner geografischen Herkunft durch einen vorpommerschen Jung geprägt wurde. Mittlerweile rechtsarmig gelähmt führe ich meine zu einem Halbkreis geformte linke Hand langsam zum Mund und achte penibel darauf, dass der abgespreizte, kleine Finger in einem ungefähren Winkel von 78 Grad gen Deckenbeleuchtung zeigt. Galant mit den beiden Endgelenken des Fingers winkend flüstere ich: „Sehen Sie? DAS ist ein Sorbenfinger.“

 

Mit solch unglaublichen Fakten verbal und optisch konfrontiert, entschleunigen selbst die zuständigen femininen Synapsen ihre Arbeit. Sie lassen die zwei Handbreit tiefer gelegenen Kehlen mit einem gewissen Sortierabstand eine erst vor wenigen Momenten herausposaunte Frage nochmals in einer kleinen, vorsichtig verallgemeinernden Modifikation und bar jeder Ironie formulieren. Beinahe sachlich. „Warum zucken Sorben nun mit den Beinen?“

 

Die Pose ist weg. Angebissen.

 

Dieses soeben von blitzenden Augen unterstützte Krankenschwesternecho gibt mir das Signal zur endgültigen gedanklichen Schleuderung der Damen und zwingt mich, eine bislang unbekannte, fiktive Mär aus der Historie des sorbischen Volkes preiszugeben. Von kriegerischen Sachsen, bronzenen Rüstungen und Juri Broz. Dem sorbischen Homöopathen aus dem 5. Jahrhundert. Dem in Vergessenheit geratenen Pionier des spätantiken Anästhesiewesens. Ich halte in meinem Vortrag kurz inne und setze dann mit sehr wichtiger Miene einen ersten fetten Treffer: „Und jetzt bitte aufgepasst! Die bei der Behandlung oberer Gliedmaßen auftretenden Schmerzen lassen sich durch synchrone Bewegungen in den unteren Gliedmaßen deutlich lindern.“ Als kommunikationsgeschulter Angestellter eines Bildungsunternehmens vergewissere ich mich, dass diese Schlüsselbotschaft bei den Empfängerinnen angekommen ist. Dann setze ich fort, bringe den notwendigen Literaturnachweis (die 600-seitige Medizinerbibel „Sorbische Enzyklopädie der Schmerzbehandlung“), verweise auf meinen genetischen Code und (ganz wichtig!) darauf, dass auch Sorbinnen dieser Art der Schmerzlinderung frönen.

 

Zwei bis an den hohen Seitenscheitelansatz gespannte Augenpaare fixieren sich. Zwei bis vor wenigen Minuten so munter parlierende Münder stehen still. Muxe Mäuschen. Und jetzt folgt das alles, wirklich alles Entscheidende. Jedes Wort betonend verlässt der folgende Satz, der vermutlich einen Mann wie Galileo Galilei vor dem mittelalterlichen Hausarrest bewahrt hätte, meine Lippen:

 

„Das können Sie an ihrem Heimcomputer googeln.“

 

Silence. Und nun: Versenken.

 

„Übrigens: im Bautzener DOMOWINA-Museum gibt es seit August 2011 eine Dauerausstellung zur Geschichte der sorbischen Medizin. Lohnt sich.“

 

Lügen haben keine kurzen Beine. Ich lass die meinen nochmals zucken.

 

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