Greifswald (SPA): Als nimmermüder Optimist frohlocke ich, zum Entfernen meines Soft-Cast-Verbandes stelle mir die Klinik einen mit feinmotorischen Soft Skills ausgestatteten und in der Blüte seines Schaffens stehenden Doktor ab. Einen, der bei den morgendlichen Visiten spätestens als Fünfter an die Reihe kommt, um mit einer dem Oberarzt gleichen, teilnahmsvollen Miene zart über das vom niederen Personal stringent gerückte Betttuch streichen zu dürfen. Einen, der berechtigt ist, schlagfertig von einem am Fußende angebrachten Metallschild den Namen des Patienten zu rezitieren. Falls der Gott in Weiß routiniert die ahnungslose Frage fragt: „Na, wen haben wir denn hier?“. „Dirk …“. „Ach ja, die kaputte Hand.“
Nein. Das, was mich zum Zwecke der Gipsentfernung mit einer Art kleinmotorisiertem Pizzamesser, und Zacken dran, in eine antiseptisch nicht einwandfreie Abstellkammer begleitet, gerät dem bettlägerigen Patienten bei Visiten nur selten ins Sichtfeld. Nur dann, wenn er einen flüchtigen Blick an Ober-, Mittel-, Unterärzten, Arztanwärtern, Stationsschwestern, Studenten und Assistenten vorbei in die dem Krankenzimmer vorgelagerten Flure erhaschen kann. Auf jene, die das eifrig protokollierende Beiwerk in der Nachhut des klassischen Defilees bilden und denen es aus Platzgründen unmöglich ist, neben dieser Schar von Weißkitteln Zutritt in ein Krankenzimmer zu erlangen. Eine von jenen, denen der Oberarzt beim Verlassen der Patientenaufbewahrungsräume etwas Mystisches ins Ohr zischt. Patient dreimal täglich vor dem Essen umlagern. Oder: Der Mann kann ab sofort allein auf Klo. Oder: Recherchieren Sie mal, ob das Buch, das da auf dem Nachtschrank der kaputten Hand liegt, bei Amazon zu haben ist. Ich neige in diesem Moment dazu, die betriebsinterne Personalentscheidung als nicht geeignet zu betrachten, eine dem anstehenden komplexen Vorgang notwendige Vertrauensbasis angedeihen zu lassen.
Es sei denn, allein optische Reize genügen für die Schaffung einer solchen Grundlage.
Die Konstruktion einer auf optischen Reizen bauenden Vertrauensbasis befindet sich noch in der frühembryonalen Phase, als die attraktive Schwester diesen Prozess aufs Ärgste sabotiert. Indem sie mir aus arbeitstechnischen Gründen mittels einer halben Schraube den Rücken zukehrt. Als wenig später ein beißend klirrender Ton erklingt, summe ich den fiesen Rhythmus des Fräsgerätes mit. Das tu ich zur Beruhigung meiner Ängste immer. Ich angstsummte als frisches Mitglied der AG Junge Imker, als ich im Lohsaer Schulgarten einen der Bienenstöcke zum Zwecke der Wabenkontrolle betrat. Oder ich angstsummte viele Jahre später als stets besorgter Beifahrer die ungeliebten Hits aus dem Autoradio mit. Ein in solchen Situationen typischer Dialog: „Warum summst du?“ „Ich summe immer, wenn ich Angst habe.“ Jetzt begleite ich leise summend den Ton der Fräse. Mono Ton.
Knappe fünf Minuten verstreichen, bevor die Krankenschwester das Gerät verstummen lässt und sehr tief ausatmend zur Seite tritt. Soweit ich das nach einer eilig vorgenommen Sichtkontrolle beurteilen kann, gelang der Fräserin ein vorzüglicher, weil sehr gerader Gipsschnitt. Schnitt gut! Nichtsdestotrotz haftet die harte Rolle nach wie vor in starrer Umschlingung an meinem rechten Arm.
Gemäß meinen Recherchen zum Wandel des Rollenverständnisses zwischen Mann und Frau innerhalb der letzten 730 Jahrhunderte kennzeichnet das nun Erlebte einen der Kollateralschäden des Feminismus. Aber an welcher Stelle haben wir sie verloren, die süßen weiblichen Urgeschöpfe? Jene, die einst mit ausgesucht warmen Worten die Dienste ihres Gatten bemühten, um einen vor die Höhle gerollten Granitfels beiseite zu räumen. Die ihn freundlich darum baten, eine Bahn Raufasertapete an die mit amateurhaften Malereien von Großwildjagden und rituellen Tänzen verschandelte Felswand zu nageln. Die ihm uneingeschränktes Vertrauen bei der Feuerholzbeschaffung schenkten und ihm keine lässig beschmierte Meme mit der Aufschrift Buche! in den frisch gebügelten Lendenschurz schoben. Jene Frauen, für die ein elektrischer Sicherungsschrank noch ein geheimnisvoller Tabu-Kasten und kein Das-kann-ich-auch-alleine-Schrank war.
Jetzt, im Angesicht eines Soft-Cast-Verbandes, der sich trotz eines sehr geraden Schnittes nach wie vor kaum autark bewegen lässt, greift die junge Frau nach jener Kompetenz, die sich primär ihren Weg aus dem Innersten ihres hübschen Köpfchens in Richtung ihrer Handlungsextremitäten bahnt:
Gewalt!
Deren brachiale Interpretation durch diese attraktive, gerademal einssechzig an Höhenmetern messende Person trifft mich völlig unvorbereitet. Extrem ergebnisorientiert verlässt die Krankenschwester für den nun anstehenden Arbeitsgang die über Jahrmillionen mürbe getretenen Pfade weiblicher Anmut, Eleganz und Einfühlsamkeit. Sie beginnt, mit einem beidhändigen Griff und mit einer ihren seichten Proportionen wenig adäquaten Kraftanstrengung den Gipsverband entlang der von ihr geschaffenen Fräsnaht zu spreizen. Bevor ich die fixe Idee, doch besser erneut das motorisierte Pizzamesser in die Hand zu nehmen und mit dessen Zähnen dran einen gepflegten Keil zu fräsen, in ein wohl dosiertes, stresspräventives Satzgerüst packen kann, werde ich durch einen wild und gequält zwischen zwei blütenweißen Zahnreihen herausgepressten Befehl dazu aufgefordert, meine verletzte Hand doch endlich durch den entstandenen, achtzehn Millimeter breiten Schlitz zu lavieren.
Quasi so eine Art endlich Arsch bewegen. Nur mit Hand.
Jeder Bürger, dessen körpereigenes Greifwerkzeug jemals über die zeitliche Distanz von acht Wochen reglos und ohne jeden muskulären Reiz, von einigen ganz netten ergotherapeutischen Fingerübungen und Streicheleinheiten abgesehen, in einem Soft-Cast-Verband geschlummert hat, weiß, dass eine solche Order trotz aller energisch eingeforderten Hörigkeit nicht ganz so einfach zu befolgen ist. Dies ist der jungen Gipsspreizerin in einem ersten Anflug von Erregung nicht genehm. In ihren Augen glüht die rote Lava zweier Krakatau-Eruptionen, als sie Blickkontakt zu mir gefunden hat. Woraufhin ich den Impuls verspüre, ein neuerliches Summen anzustimmen. Offensichtlich möchte sie diese Angelegenheit schnellstmöglich hinter sich bringen und sieht mit kaminrotem Kopf einen mittlerweile auf gewaltige neunzehn Millimeter Breite angewachsenen Schlitz als völlig ausreichend an, eine über mehrere Wochen taub gelegene Erwachsenenhand ans Tageslicht zu befördern.
Ich versuche es und sofort setzen die Wehen ein. Es gelingt mir, den Daumen in halber Länge durch den Spalt zu führen. Vor den finalen Bemühungen bitte ich die Schwester, einen Schritt zur Seite zu treten, damit ich die linke Hand an ihr sichtkompatibel vorbeiführen und als Balancierhilfe nutzen könne. Just in jenem Moment, in dem sie meiner Bitte nachkommt, entgleiten ihr die Schlitzkanten im Zuge einer kurzen Schwächephase aus den Händen.
Bipolar.
Geräuschlos verringert die Naht ihre minder komfortable Schlitzbreite binnen Tausendstelsekunden um circa 20 Prozent. Ein um 80 Prozent effektiveres Zusammenschnappen wird durch jene abgemagerten Weichteile verhindert, die sich am Ballen unterhalb des Daumens befinden. In diese weichen Teile graben zwei schnappende Gipskanten nun formvollendete Kerbtäler. Parallelfjorde im Maßstab Eins zu X. Mit Beendigung dieses Ereignisses entfleucht meinen Lippen ein ehrliches und deutlich artikuliertes „Aua!“. Gleichzeitig erstreckt sich ein blutarmes Weiß im schmerzmeldenden Areal, während die Schwester neben einer huscheligen Entschuldigung versucht, ad hoc eine vollständige Rekonstruktion der ehemaligen Schlitzbreite herzustellen. Wobei sie den Verband ein weiteres Mal schnipsen lässt. Meine Stimmbänder werden so zu einem um einige Dezibel energischeren „Aua!“ animiert.
Die Beratungsresistenz der Krankenschwester verharrt selbst nach diesem neuerlichen Vorfall im sterilen Aussaatmodus. Ins ewige Eis gepflügt von einem Kaiserpinguin tausend Meilen südlich des südlichen Wendekreises. Schließlich war es ja nicht sie, die einen schmerzhaften Erkenntnisprozess durch ein herzhaftes „Aua!“ verbal zementierte. Der nun von mir gut hörbar artikulierte Vorschlag, das Pizzamesser mit Zähnen dran erneut anzusetzen und den Schlitz maschinell statt manuell zu verbreitern, lässt sie kalt wie ein Tiefkühlhühnchen. So lege ich erneut die gesunde Hand an, um bei der Spreizung zu helfen.
Nach einigen Minuten, in denen alle Beteiligten an den Grenzen ihrer psychischen und physischen Belastungsfähigkeit kratzen, liegt der grüne Soft-Cast-Verband inhaltslos in einer zu diesem Zweck bereitgestellten Aluminiumschale. Ob die acht Wochen zuvor während einer Operation rekonstruierte Bandnaht das intensive Gejuckel der letzten Stunde überstanden hat, kann in diesem Moment von keinem der Beteiligten evaluiert werden. Die daumennahen Weichteile weisen derweil die ausgeprägten Symptome einer Schnappanästhesie auf.
Irgendwie taub.
Kommentar schreiben