Greifswald (SPA): Marlen weiß in der Folge von unzähligen Keksrezepten zu berichten, von denen sie im Laufe ihres Lebens gelesen und gehört, sie später jedoch wieder vergessen habe. Kurze Pausen in ihren Ausführungen nutzt sie, um, von ihrem ersten Fund beflügelt, in der Wohnung nach weiteren erigierten Brustflossen und Ähnlichem zu fahnden. Bis ihre Augen nach einer Oberkörperdrehung zwei gerahmte Bilder an der Wand direkt hinter ihrem Rücken entdecken. An Lena gewandt fragt sie: „Hast du die auch gemacht?“ Das bis soeben mir und der Kreisstanze gewidmete Lächeln wird zu einem lauten Lachen. „Das sind zwei Dali-Drucke, die ich mir vor einigen Jahren aus Barcelona mitgebracht habe. Mit Motiven aus der Göttlichen Komödie.“
„Lena Dali. Was für ein Name!“, bemerke ich.
Indessen packt Kristin vier schüsselförmige Behälter, vier verschiedenfarbige Teigsorten und viermal vier Gewürzkombinationen aus ihren vier mitgevierten Taschen. Sie ist eine Perfektionistin, würde das allerdings nie zugeben. So ist es ihr eigen, sich regelmäßig und gewaltig in der zeitlichen Planung zu verspekulieren. Ich erinnere mich an so manch gemeinsamen Kochabend, an dem der Hauptgang kurz vor und der Nachtisch weit nach Mitternacht gereicht wurde, weil allein das Mörsern von Gewürzmischungen gefühlte Stunden in Anspruch nahm. Auch beim letztjährigen Fertigen von Weihnachtsgebäck musste der Ofen eine intensive Nachtschicht einlegen. Die letzten Plätzchen, eine Kreation von Kristin, verschwanden um zwei Uhr morgens in diesem zur Erhitzung. Dass es eines ihrer Produkte auch heute in den letzten Backgang schaffen würde, ist ein unschlagbarer Tipp. Eine Wette, die jeder englische Buchmacher mit einem wissenden Kopfschütteln ablehnen würde.
Der Ruhepol in dieser Runde ist Lena Zwo. Mit Tochter. Bedächtig verteilen sie ihren vorbereiteten Teig auf einem Brettchen und schon kneten alle die braun-weiße Masse zu kleinen sichelartig gebogenen Förmchen, die mich in ihrer Optik an die in der Kindheit verspeisten Geleebananen erinnern. Vanillekipferl. Das Aroma verbreitet sich umgehend im Raum und beginnt, sich mit jenen Düften zu mischen, die der mit Esche beheizte Kamin und das offensiv verteilte Deodorant unter Marlens Achselhöhlen entlassen.
Über Inas Rolle in dieser illustren Gesellschaft hat sich mit Beginn der Veranstaltung ein nebulöser Schleier gelegt. Ihre Backzutaten scheinen irgendwo auf dem langen Weg von Hamburg in diese beschauliche Wohnung ihrer alten Heimatstadt verloren gegangen zu sein. Selbst mit Tipps und akkurat formulierten Back- und Knetberichten á la Marlen hält sich Ina vornehm zurück. Ein latentes Desinteresse kann ihr auch nicht nachgewiesen werden. Eher im Gegenteil: Beim gemeinsamen Zuschnitt des von Heike präparierten Teiges greift sie absolut freiwillig nach den Stanzen mit einer komplizierten Geometrie. Nach dem Oktagon und dem pentagonalen Stern. Diese erfordern hinsichtlich einer effizienten Nutzung des gewalzten Teigstrichs eine für Frauen untypische, strukturelle und vorausschauende Systematik in der Stanztechnik (quasi das, was ich bei meiner Arbeit mit Quadratformen nachgewiesen habe). Zudem einen enormen Mehraufwand durch wiederholtes Walzen. Das macht sie verdächtig. Märtyrer oder einfach nur Zeitspiel. Ich nehme mir vor, Ina im Auge zu behalten.
Inzwischen hat Jack Johnson die bis eben gehörte Latinomugge von Maná im Player abgelöst. Im Ofen harren drei mit Heides Gebäck belegte Bleche ihrer Endkontrolle durch eine Rouladennadel, die von Lena behandschuht senkrecht eingeführt wird. Vom Tisch sind soeben dank meiner ritterlichen Aufmerksamkeit zwei geleerte Flaschen Prosecco via Flur in den Flaschenentsorgungskorb verortet und durch eine Flasche gekühlten Weißwein, trocken, ersetzt worden. Gläser werden getauscht, gefüllt, gestoßen, gehoben, gekippt, von für den Moment still stehenden Mündern berührt, genüsslich geleert.
Gegen 19 Uhr sind Heides Kekse mundfertig gebacken und stichprobenartig verspeist. Vergleichsweise wenige Quadrate. Zu eckig für weibliche, empfindliche Gaumen. Vermute ich. Die Vanillekipferl schaffen es in den zweiten, momentan laufenden Backvorgang. Ich konstruierte bei deren gemeinsamer Biegung und Formung kreativ-inklusiv, was nun anhaltendes Running-Gag-Potential entwickelt: „Der ist von Hannes! Der auch!“ Lautes Gekicher, das erst Ruhe gibt, bis selbst die stille Tochter von Lena Zwo ein Backdings identifiziert hat, das eindeutig mir zuzuordnen ist. Nicht schwierig, gebe ich zu, aber hey, mit Fingern auf Vanillekipferl zeigen, ist auch nicht in Ordnung.
Kristin ist nun eifrig dabei, in Einzelgesprächen die Arbeitsaufträge für die Herstellung und Aufbereitung ihrer vier Teigsorten durchzugehen. Aus den von mir im Vorbeigehen behutsam höher geregelten Lautsprechern erklingt das geradezu fantastische „The Pan Within“ von den Waterboys. Auf dem populärmusikalisch ausjustierten Geschmackspendel rangiert dieses Stück irgendwo mittig zwischen Lena und mir. Ehrlich? Eigentlich schon mehr Hannes. Im Kamin erklimmen lichterlohe Flammen zwei soeben nachgeschobene Scheite Eschenholz. Die reale Zimmertemperatur hält sich mittlerweile konstant zwischen 32 und 34 Grad Celsius, so dass sich die Frauen warmer Füße erfreuen. Ich, der sich seit zwei Stunden barfuß bewegt, zähle sieben Paar Überziehsocken, die achtlos auf die Couch geworfen worden sind. Lenas liegen obenauf. Kuschelwarme Socken in Grau, hergestellt aus dem dichten Brustfell norwegischer Alpakas.
Auf dem Herd brodelt einer der Höhepunkte des Abends.
Es war Lenas Idee. Zwei Tage vor dem heutigen Event sprudelt es unvermittelt aus ihr heraus: „Ich glaube, nur süß geht nicht.“ Es folgt ein kleines Päuschen, das mir Zeit für ein bestätigendes Nicken gewährt. „Magst du nicht deine Soljanka kochen?“ Deine Soljanka! Na logisch. Ich habe also vor zwei Tagen eine Sorbische Wurstsoljanka in den größten Topf des Haushalts gezaubert. Etwas, für das ich gerühmt werde. Die für dieses Gericht unter den Sechs-Sterne-Köchen der Welt kursierende Abkürzung SWS ist seit der Abwicklung des Sozialistischen Währungssystems als unverwechselbare in den allgemeinen Sprachgebrauch der Menschheit übergegangen. Unverwechselbar wie der Geschmack einer von mir hergestellten Sorbischen Wurstsoljanka. Im zweiten Drittel meiner immerwährenden Jugend habe ich Weihnachts- und andere Feiern mit zwei Acht-Liter-Behältnissen Soljanka bekocht und die Töpfe mit angepinnten Bannern versehen. Von denen grüßten in kursiver Schrift die Hinweise „Scharf!“ und „Für die Kinder!“. Nach dem Genuss begannen erwachsene Konsumenten mit zinnoberrotem Kopf und adäquat gefärbtem Hals, ihre dem festlichen Akt sorgsam angepasste Oberbekleidung wegen plötzlich auftretender Hitzewellen gürtelwärts zu knöpfen. Sie näherten sich notdürftig dem Weihnachtsbaum oder den mit Kratzputz versehenen Wandarealen, um sich möglichst unauffällig die vakanten Körpersegmente zu schubbern. Sie leckten sich die Finger und Lippen und fragten, was denn in dem „Scharf“-Topf drin sei, wo sie doch erst ein Tellerchen aus dem anderen probiert hätten.
Gut: Die Zeiten sind lange vorbei.
Jetzt verzichte ich auf Würzorgien, gebe gepflegt einige Blätter Lorbeer und ein paar Kräuter hinzu und schmecke die Suppe mit etwas klarer Gemüse- oder Hühnerbrühe statt mit Pepperonisäften ab. Zum Abschluss fülle ich jene Zutat in den Topf, die meiner Soljanka den exklusiven Touch verleiht. Der sechste Stern quasi, die ü-Tüpfelchen, die dem Genießer der Suppe ein kulinarisches Aha-Erlebnis verleihen werden: die fein abgetrennten Röschen eines Blumenkohls. Nun bekommt die Soljanka zwei Tage Zeit, um bei Außentemperatur ihr einmaliges Bouquet und ihren vollendeten Geschmack zu entfalten.
„Hast du sie auch nicht zu scharf gemacht?“ Ich sende ein beruhigendes Nicken in Richtung der ein wenig besorgt dreinblickenden Lena. Und ergänze lakonisch: „Mach ich doch seit Jahren nicht mehr.“ Ich stelle acht frisch gefüllte Schüsseln auf den Tisch, von wo nach deren Befüllung nur für geübte Augen sichtbare Schwaden weibliche Geruchsorgane mit wohlriechenden Düften attackieren. Anschließend platziere ich in der Tafelmitte zwei Schälchen mit saurer Sahne. Lege kleine, auf Hochglanz polierte Löffel hinzu. Wünsche einen „Guten Appetit“, begebe mich noch fix zum CD-Player und wechsle Del Amitris “Twisted“ ein. Schalte auf Titel Drei. Knalle zwei Sambamoves auf das geflieste Parkett.
Nach den ersten Löffelstichen fliegen mir aus allen Richtungen die ersten verbalen Orden entgegen. Ich suhle mich minutenlang in soljankischen Lobeshymnen. Bis etwa in der Mitte des Festessens Ina überraschend ihren Fotoapparat zückt. „Aha!“, denke ich, „Der Moment der Enttarnung ist gekommen.“. Schlag den Henssler oder PET, der dänische Nachrichtendienst. In meinem Kopf entstehen verwackelte Schwarz-Weiß-Bilder von dänischen Geheimdienstagenten. Wie sie in einem unterirdischem Geheimlabor in der Nähe von Roskilde versuchen, den Rezeptcode einer Sorbischen Wurstsoljanka zu knacken. Anhand eines bei Kerzenschein mit schwachem Blitzlicht und nullkommavier Megapixeln geknipsten Fotos. Ich ziehe in Erwägung, mit Hilfe der Suppenkelle den Blumenkohl in den für die digitale Fotografie nicht erfassbaren Underground des Topfes zu rühren. Komme jedoch nach kurzer Überlegung zu einem beruhigenden Fazit: Das kriegt der dänische Geheimdienst auch so nicht entschlüsselt. So verorte ich Ina vorerst bei irgendeinem Kochduell.
Von kurzen, intensiven Anstoß- und Nachfüllpausen zur Beseitigung des soljankischen Nachbrandes („Die war doch recht kräftig gewürzt.“) unterbrochen, beschäftigen sich nach dem Essen acht Personen mit der Herstellung und Knetung von Kristins durchgestylten Teigen. Als die Formung der Rührwerke zu mund- und weihnachtsgerechten Backstücken ansteht, begebe ich mich aus freien Stücken an das benachbarte, von den Frauen bestens einsehbare Abwaschbecken. In diesem Haushalt hat der Mann im Zuge seiner Domestizierung die Evolutionsstufe zwischen „Küche geht mich nix an“ und „integrierter Geschirrspüler“ erklommen. Was von mir in einer nun folgenden, halbstündigen Abwasch- und Abtrockenperformance eindrucksvoll bewiesen wird.
Kristins Plätzchen sind erwartungsgemäß die letzten, die das Innere des Backofens passieren. Aber sie verlassen diesen weit vor Mitternacht. Die Pixies sind von allen ohne einen winzigen Ansatz von Murren gehört worden. Trotz aller schrägen Gitarren. In diesem Moment läuft das letzte Stück vom Smiths-Sampler „Louder Than Bombs“. Zum Finale: „Asleep“. Lena tuschelt geheimnisvoll in einer Ecke des Sofas mit Lena Zwo. Deren Tochter hat sich vor einer guten halben Stunde mit zwei Behältern verabschiedet, die bis zum Rand mit Erzeugnissen aus der neuesten Keksproduktion befüllt worden sind. Jetzt wünscht die sichtlich müde Heide reihum „Gute Nacht!“, begibt sich aber noch für eine letzte Tageszigarette in das Dunkel der Terrasse. Marlen scheint sich in ein paralleles Universum begeben zu haben und träumt mit leicht geöffnetem Mund in Richtung Deckendekoration. Hannes gesellt sich zu Ina und Kristin an der anderen Ecke des Tisches. „Das war richtig schön heute. Klasse Musik hast du da gehabt.“, sagt Ina.
Aha. Sie ist vom Rolling Stone - Musikmagazin.
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