Alle(s) Roger

 

 

Greifswald (SPA): Eine ältere Frau wird geschlagen. Am Boden liegend mit Füßen malträtiert. So wie es bei der Beurteilung dieser Tat an sich keine zwei Meinungen geben kann, so schnell wandelt sich das selbstverständliche Mitgefühl für das Opfer in den sozialen Netzen in einen Schuldsuche-Motiv-Herkunfts-Shitstorm, der aus der Hüfte geschossen vorerst dort beim Täter („an die Wand!“) und hier der namentlichen Nennung toleranzschwafelnder und linksgrünversiffter Forumsmitglieder beginnt.

 

Gut – aus der Tastatur eines selbsternannten Lichtenhagen-Veterans (wobei nicht ermittelt werden kann, ob er das Abendland aus der ersten oder zwanzigsten Reihe gegen eine Handvoll Vietnamesen verteidigt hat) liest sich das wie ein Manifest. Bevor sich am Tage darauf eine philosophische Nachwuchshoffnung zum finalen Richter in der Gemeinschaft der Hobbyjustitia aufschwingt und, als Satire(!?) getarnt, seinen merkel- bis riemannumfassenden Hass ins German Wide Web ejakuliert. Ob und in welchem Umfang dessen antike Vorbilder Platon oder Sokrates auch satirisch wirkten, ist nicht in vollem Umfang überliefert. Eher schon, dass sich die alten Philosophen bei ihren nimmermüden Weisheiten auf die Menschheit als Ganzes konzentrierten.     

 

Zurück in die Zukunft.

 

1988. Roger studiert Geschichte und Deutsch an der Greifswalder Uni und wohnt wie ich in der Brünzower Wende. Er ist in Leipzig geboren sowie aufgewachsen und paart sein breites, höchst amüsantes Kaffeesächsisch mit einer faszinierenden Schlagfertigkeit. Die allein macht mindestens wett, dass er nicht der talentierteste Sparringspartner bei unseren Karambolage-Nächten in der Grotte ist.

 

Im jenem Jahr fahren wir mit einer großen Truppe ins polnische Olsztyn (Allenstein), um dort für drei Wochen studentensommerlich zu arbeiten. Roger, Thomas und ich bilden dabei eine Gehweginstallationsbrigade. Wir spielen am Morgen zwei oder drei Stunden Ramsch in einem Bauwagen, ehe unsere beiden polnischen Vorarbeiter diesen mit den freudigen Ausrufen „Glasnost!“ und „Perestroika!“ betreten, um anschließend selbst die Karten zu zücken.

An einem besonders heißen Tag sind wir vormittags damit beschäftigt, ein paar Kubikmeter Kies wegekompatibel zu sieben. Bis es uns dürstet. Wir ziehen auf der Suche nach Wasser durch die angrenzenden Straßen und landen letztendlich in einem Lokal, das den von uns so häufig frequentierten Greifswalder Harten Sattel ad hoc vier Sterne in die Höhe hebt. Dichter Nebel und fünf, sechs gut bestandene Stehtische, von denen uns nun zwei Dutzend Augenpaare mustern. Verlierer einer verlorenen, spätsozialistischen Gesellschaft.

Ich lehne mich in ein Ausgabefenster, ordere mit Fingern sechs Flaschen Wasser und als ich mich wieder umdrehe, sind die Stehtische leer. Um Thomas, der mit seinen Händen fuchtelt und „Niemiecki“ und „Pracowac“ ruft, und Roger hat sich ein Kreis aus Jung und Alt, aus Mann und Frau gebildet. An Roger prallen erste Bierneigen und der Inhalt voller Aschenbecher ab. Dann werden die ersten Plastikbecher auf seinem Kopf zerdrückt. Dann wirft sich die Frau von der Ausgabe schreiend dazwischen und ermöglicht uns eine Flucht. Wir sind jung. Wir sind schnell. Und haben nicht bezahlt.

 

Zwei Tage später reist Roger ab. Black roots. Sein Vater war Kenianer.

 

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