Greifswald (SPA): Greifswalder Fleischervorstadt. Unter dem Klingelschild mit der Aufschrift Hollatz hängt ein bekritzeltes DIN A4-Blatt. Die Kritzel befehlen:
"Anziehen!". Mein Blick wandert nach unten und findet ein Paar Stiefel. Aus Blei gegossenes Fußkleid in Größe 44, dass mein Eigengewicht durch Reinschlüpfen über die Dreizentnermarke
hebt. Nun drückt mein Zeigefinger den Klingelknopf.
Die Tür fliegt auf und nachdem ich drei Sekunden in einen nackten Flur starre, höre ich: "Was nun? Willste reinkommen oder sind die Stiefel zu schwer?" André Hollatz hängt kopfüber an der Decke und grinst mich breit unter dem oberen Türrahmen an. Willkommen in der Schwerelosigkeit!
Vor zwei Jahren hat er an einem Preisausschreiben von Roskosmos teilgenommen. Und den Hauptgewinn der russischen Weltraumorganisation abgefasst: eine Hospitation auf der ISS. Nun stehen
die Chancen gut, dass André Hollatz, der einfache Junge aus der Fleischervorstadt, der erste Kosmonaut Greifswalds sein wird.
Das Training in der Schwerelosigkeit läuft seit drei Wochen. Dazu wurde seine Wohnung durch die Roskosmostechniker in den Zustand einer Antigravitationskammer versetzt. Seit diesem Tag kann
Hollatz die Decke mit den Füßen touchieren. Und mit jedem anderen Körperteil. Das gesamte Mobiliar der Wohnung ist mit Doppelklebeband fixiert. Extra starkes Doppelklebeband. Schränke, Tische,
Geschirr, das Bett (hier ermöglichen Spanngurte eine nächtliche Nutzung). Selbst die Tankstelle: ein Kasten Sternburg.
"Kann ich mir mal die Hände waschen?" "Ne, kannste nicht. Ist alles abgestellt. Logisch, oder soll ich das Wasser wieder einfangen?", meint André. "Jetzt kommst du erstmal mit.", und schon führt er mich, der sich langsam an das Schuhwerk gewöhnt, ins Schlafzimmer. Dort, vis à vis zum Bett, steht ein Altar oder ein Altarähnliches. Mit zwölf gerahmten (und fixierten) Porträts von Weltraumlegenden: Gagarin ist dabei, Tereschkova, Laika, Leonov und natürlich, mittig und leicht nach vorn versetzt, Siggi Jähn. "Deine zwölf Apostel?", frage ich. Wieder grinst er breit und berichtigt mich: "Die zwölf Kosmopostel."
Dann beginnt er mit einem Gebet. Oder einem Mantra. Weiß ich nicht genau. "Ein Hoch dem Tag, an dem die Welt erfuhr, Hollatz fliegt vom Weltraumbahnhof Baikonur. Saljut!" Das Ganze
dreimal und beim letzten Saljut! stimme ich mit ein. Andrés Euphorie ist ansteckend.
Bei einem Tubenkaffee, frisch abgefüllt, erzählt er mir von den kommenden Trainingseinheiten. In zwei Wochen kommen die Roskosmos-Ausstatter und legen ihm den maßgefertigten Raumanzug an. Dann
schwebt er vier lange Wochen in voller Montur durch die Wohnung. Anschließend geht es nach Moskau, wo ein letzter Härtetest für seine körperliche Belastbarkeit ansteht: der Kotzbomber.
Parabelflug über den Weiten der Russischen Förderation. "Das wird ein Spaß!", meint André, obwohl er weiß, dass ich unter Spaß etwas Anderes verstehe. Zum Abschluss ein letzter
Gesundheitscheck. Und dann kann es eigentlich losgehen.
Für den ersten Kosmonauten Greifswalds.
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