André tanzt

Servilius Nonianus (nachcolorierte Schwarz/Weiß-Fotografie aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.): Auf den Aufzeichnungen des römischen Schreibers beruhen die Choreografien des rituellen Tanzes der Fish Angels

 

Greifswald (SPA): Mein Telefon klingelt. Es ist André. Er stammelt eine bemühte Entschuldigung durch die Leitung, wirkt unsicher und ist verärgert, dass wir letztens nach der Fischsuppe im Gefährlichen Lurch so wort- und trostlos auseinander gegangen sind (SPA berichtete). Es tue ihm sehr leid und er fragt mich, ob ich ihm noch böse sei. Oh doch, ein bisschen. Ein kleine Weile lasse ich ihn zappeln, halte via DSL einen kontrollierten Drill und erst als ich ihn save im Kescher weiß, gebe ich mich tröstlich: „Nein, nicht böse.“

André, Vorsitzender und Sprecher der Fish Angels in Doppelfunktion, besteht auf eine sofortige Wiedergutmachung. Für einen wie ihn sei das eine Sache der Ehre und so spricht er eine formvollendete Einladung aus. Gleich für den Abend an den Strand bei Wampen. „Ich gehe auf Aal.“, fügt er hinzu. Dann lockt er mich: „Die Intro wird dich interessieren. Stehst du auf Tänze?“ Naja, denke ich, kommt auf die Musik und anderenfalls auf den Tanzpartner an. Trotzdem kann ich eine gewisse Neugier nicht unterdrücken. Und Neugier ist der Zwölfzylinder im Kugelschreiber des investigativen Journalisten. „Ja. Ich bin dabei. Was soll ich anziehen?“ „Mach´ s nicht so kompliziert. Tobesachen an und komm mit dem Fahrrad. Ich habe eine Kiste Sterni dabei."

 

Gegen 20 Uhr erreiche ich den vereinbarten Treffpunkt. André hat schon gedeckt. Zwei Klappstühle stehen bereit, die Hälfte des Sternburg-Pilses befindet sich zur Kühlung waagerecht aufgereiht im Boddenwasser. Das habe erst elf Grad. Er hat drei Angelruten zusammengesteckt, mit schwerem Grundblei und Haken versehen. Ich muss ihm versprechen, es auch mit dem Angeln zu probieren. André freut sich und zeigt zum Himmel. „Neumond und stille See. Bestes Aalwetter.“ Ich nicke wie ein Ahnungsloser nur nicken kann.

 

Dann wechselt er das Thema.

 

„Sagt dir der Name Servilius Nonianus etwas?“ Flüchtig krame ich in meiner brainalen Bibliothek und schüttele dann verneinend den Kopf. „Ein römischer Schreiber, ...", klärt er mich auf, "... den es vermutlich wenige Jahre nach der Schlacht im Teutoburger Wald in diese Gegend verschlagen hat.“ Ich frage mich, auf was er hinaus will und erbitte mehr Kontext. André setzt geduldig fort: „Es ist nicht überliefert, welche Landsleute er hier vorfand – wahrscheinlich slawische Stämme, vielleicht gar Germanen. Aber seine Aufzeichnungen, im feinsten Anglerlatein formuliert, berichten von einem rituellen Tanz, mit dem die Eingeborenen an ihr Tagwerk, den Fischfang, gingen.“ Dann klopft er sich an die Brust und sagt voller Stolz: „Das ist jetzt unser Tanz!“ Erstaunt frage ich nach: „Du meinst, die Fish Angels läuten die Angelsaison mit einem Ritus ein, der zwei Jahrtausende alt ist und auf den fragwürdigen Aufzeichnungen eines römischen Schreibers beruht?“

 

Handgezeichnete Skizze von André: Die drei Grundelemente des Fish Angels - Haka

 

 „Nicht die Saison.“, verbessert mich André, „Wir machen das vor jedem Angeln.“ Er läuft zu seinem Angelkoffer, holt eine Klemmmappe heraus, der er ein weißes Blatt entnimmt. „Die drei Akte des Tanzes beschäftigen sich mit den drei traditionellen Grundelementen des Angelsports: Ausrüstung, Mensch, Tier.“ Neunmalklug grätsche ich dazwischen: „Was ist mit der Komponente Wetter?“ André grinst: „Das können wir eh nicht ändern. Und Servilius schrieb nichts davon.“ Er reicht mir das Blatt: „Hier … damit du alles nachvollziehen kannst. Wir nennen das Ganze übrigens Fish Angels-Haka.“

 

Dann geht André ins Wasser.

 

Element Eins: Der schlingernde Einbaum

 

Zuerst ist die Erinnerung an ein sorbisches Sprichwort da: „Beim Einbaum, der im Wasser giert, das Fischereivergnügen meist verliert.“ André visualisiert mit der durch ein stetes Wippen charakterisierten Choreografie die Gefahren eines in der See schlingernden Einbaums. Dem Angler drohen jederzeit der Verlust des Gleichgewichts, der Ausrüstung und ein Sturz ins tiefe, nasse Wasser. Das Kentern des Einbaums könnte einen GAU bedeuten. Ich kann das nachvollziehen und habe es selbst bei einem Ausflug auf dem Kummerower See erfahren müssen. Fazit des damaligen Tages: Eskimorolle mit Canadier nicht möglich! Dabei hatte ich Glück. Denn vor 2000 Jahren gab es keine blaue Tonne, in der wichtige Dokumente wie der Angelausweis und Utensilien wie ein Handy oder ein trockener Wechsel-Lendenschurz verstaut werden konnten. So ist es wenig verwunderlich, dass André diesem Element des Angels-Haka sehr viel Aufmerksamkeit und eine gefühlte Ewigkeit widmet.

 

Element Zwei: Der graziöse Mensch

 

Die an sich widersprüchliche Funktion des Menschen, der einerseits als Wesen der Natur, andererseits als Jäger gekommen ist, um dieser Natur ein anderes Wesen zu entreißen, spiegelt sich im zweiten Element des Rituals. André schreitet in zwei dreihundert Meter langen Linien uferparallel durch die Brandung und richtet dabei den Blick fest auf einen fiktiven Punkt im Wasser. Diese Stete signalisiert das unbeugsame Bewusstsein über die eigene Stellung in der Nahrungskette. Der Anzugswinkel der Knie variiert mit der Wassertiefe und symbolisiert die Gewissheit des Anglers, sich den äußeren Bedingungen jederzeit anpassen zu können. Ein hinter den Körper gebogener Arm und vor allem die signifikante Haltung der angellosen Hand veranschaulichen die menschliche Anmut und Grazie. Damit tritt der Mensch endgültig mit dem Tier in einen Wettbewerb. Das Fanggerät befindet sich bei dieser Sequenz unentwegt in Jagdstellung.

 

Element Drei: Der wilde Fisch

 

Glaubt man den Aufzeichnungen des Servilius Nonianus, waren um das Jahr 30 n.Chr. Welse, Hechte oder Zander von über drei Metern Länge keine Seltenheit. Die dritte Haupt-Choreografie beschäftigt sich damit, dass es bei der Begegnung mit solch monströsen Individuen der Unterwasserwelt sehr ratsam war, diesen ein barrierefreies Passieren zu ermöglichen. Mit dem wiederholt ruckartigen Verstecken der Angel hinter dem eigenen Körper wird Friedfertigkeit vorgetäuscht, die zeitgleich synchron und weit abgespreizten Arme imitieren rasche Abflugbewegungen. Die Summe all dieser Handlungen nährt die Hoffnung des Anglers, das wilde Tier ließe sich besänftigen.

 

André steigt nach der Performance verschwitzt aus dem Wasser. Ich applaudiere. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: „Na … ist das ´ ne Story?“ Ich lache ihn zufrieden an: „DAS ist ´ ne Story!“
Der Chef und Sprecher der Fish Angels holt zwei Bier aus dem Wasser. Lässt die Kronkorken knackig knacken. Wir stoßen an, prosten uns zu, nehmen ein paar Schlucke, werfen die Angeln aus und befestigen die Bissanzeiger an der Schnur. Dann lassen wir uns in die Klappstühle fallen. Was für ein Sonnenuntergang! Welch eine See! Was für eine herrliche Ruhe!

 

Eine halbe Stunde vor Mitternacht beißt der erste Aal.   

 

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