Greifswald (SPA): Zwei Titel aus der Konserve sind gespielt, als kurz nach 15 Uhr vier Abgeordnete des örtlichen Kulturrates am Technikpavillon erscheinen und
nachfragen: "Stimmt es wirklich, dass ihr keine Schlager spielt?".
"Die Information ist richtig", sage ich und schiebe, nachdem einige Namen hinters Pult purzeln, von denen ich DJ Ötzi zumindest schon mal gehört habe, noch ein "sorry, hab ich auch
nicht" hinterher. Es folgt noch ein einziger schüchterner Einspruch - bevor ich jedoch beim Absender die Überlegung anregen kann, warum eine Festplatte FESTplatte heißt, sind die Gesandten
schon in Richtung der Zapfhähne abgedreht. Und somit ist es fix ... es läuft das auf deutschem Boden erste schlagerfreie Dorffest seit der Bronzezeit. In Neu Boltenhagen.
Die Bühne wird auf den Festplatz gerollt
Wir schlagen gegen 11 in der Gemeinde zwischen Greifswald und Wolgast auf. Der rührige Förderverein der Freiwilligen Feuerwehr Lodmannshagen hat gut zwei Dutzend Leute zusammengetrommelt, die das
Areal am Gutshaus für das allererste Parkfest Neu Boltenhagens präperieren. Riesige Lampions werden mit großem Gerät an den Linden befestigt, einige Zelte und Attraktionen werden aufgebaut, der
Bürgermeister lenkt und stützt sich auf den Laubbesen, der erste Kaffee ist gekocht, die erste Bierflasche geöffnet, eine Fahrschule stellt die mobile Bühne für den am Abend angekündigten
Auftritt von gleich drei Bands. Vier Stunden später ist das Setup vollendet und aufeinander abgestimmt. Florian hat das vom motorisierten Bug getrennte Truck-Hinterteil mit Instrumenten, Boxen,
Kabeln, Mikrofonen, Licht bestückt, der Elektriker hat die Sicherungskompatibilität abgenommen, ortsansässige Hobbybäcker bringen ihre neuesten Kreationen an die Verkaufsstände und zwischen den
alten Bäumen präsentiert sich all das, was so eine lütte Gemeinde zu bieten hat: Bogenschießen und durch die Feuerwehr vermittelte Brandprävention, Ponyreiten, Kinderschminken, Ballonkneten,
Vorpommern Vandals und die Sternwarte aus dem benachbarten Hanshagen.
Massiver Technikeinsatz
Mit einer feierlichen Ansprache wird das Parkfest um 15 Uhr eröffnet und diese endet mit der Ankündigung der Live Acts, wobei die eine Formation eine geradezu köstliche Umschreibung erfährt: dem Bürgermeister seine Band. Hat ER schließlich so gesagt. Erste neugierige Besucher drehen ab nach Hause, um ihre Jogginghosen abzulegen und das Outfit dem Anlass entsprechend anzupassen. Der Platz füllt sich und allen Unkenrufen zum Trotz, macht auch der Regenmacher einen Riesenbogen um die Gemarkung. Ab 18 Uhr rumort es von der Bühne.
Pete & Kloppenburg, ein ursprünglich aus Greifswald stammendes Drum- und DJ-Duo trommeln und mixen von der Bühne mit einem unheimlichen Tempo und Druck. Klassiker meets Nirvana, Daft Punk meets einen Gamesoundtrack, den ich Ahnungsloser mal bei Super Mario verorte. Eine Stunde lang fettes Brett und sicher nichts , was Ohren in Neu Boltenhagen und Umgebung tagtäglich zu hören bekommen. Peter, heute Schlagzeuger bei The Old Main Drag, meint, wenn der Schlagzeuger von der zweiten Band auch so drauf sei, bräuchte er gar nicht mehr antreten. Gastmusiker sind gnadenlose Pessimisten.
Band Zwei ist diejenige, die ich noch nicht kenne. Hätte mir irgendwer erzählt, dass es in Gützkow (!) schon etwas länger eine Kombo gibt, die Skunk Anansie, die Gorillaz, die Ramones oder die White Stripes spielt, wäre das sicher nicht so. Aber "es gibt immer ein erstes Mal" hörte ich schon meinem Vater sagen, als der trotz einer Verweigerung meinerseits am 13. Juni 1974 ein erstes Heino-Tape auflegte. Waren die Parkfestgäste beim Auftritt von Pete & Kloppenburg offenbar noch zu geplättet, bekommen die kommunikationsstarken Pampa All Stars die Leute vor die Bühne und zunehmend auch zum tanzen. Auf dem vom Förderverien ausgerollten, grünen 11x5 Meter- Danceteppich, der zwei Stunden zuvor von den Kindern des Ortes noch für allerlei Bodenübungen genutzt wurde, fliegen jetzt Beine und Röcke, folgt so mancher aus dem Behältnis entfleuchter Strahl Getränk den auch in Neu Boltenhagen geltenden Gesetzen der Schwerkraft. Das Terrain für den Bürgermeister seine Band ist bereitet.
Ladenhüter: Buttons mit Bart
Dass in The Old Main Drag der Bürgermeister dieser beschaulichen Gemeinde am Mikro steht und kaum einer seiner Bürger im Vorfeld weiß, was der Meister dort tatsächlich tut, lässt
die Erwartungen bis ins benachbarte Katzow und vielleicht auch darüber hinaus fliegen. Natürlich nutzt er den vielsprachigen Auftritt auch dazu, auf die nächsten Bürgersprechstunden hinzuweisen.
Am Dienstag, bei der nächsten, wird es vermutlich Gesangs- und Rockmusikexpertisen hageln. Die Fangemeinde jedenfalls wuchs zumindest schon während der Vorstellung. Als sich eine Schar Neu
Boltenhägener Anhänger, allesamt noch nicht voll geschäftsfähig, während des Ortsvorstehers Darbietung am Merchandise-Koffer versammelte, bekam Jo, der Techniker, ausnahmslos eine Antwort auf die
Frage, welchen Button sie sich denn an die Brust heften werden: "Den Bürgermeister!".
P.S.: Videos bei Brycke-Facebook
Kommentar schreiben
Birgit Sobotta (Dienstag, 22 Oktober 2019 09:02)
Super!!! Das ist mal ein Artikel nach meinem Geschmack! Witzig,spritzig, vorder-und hintergründig! Und der Verfasser hat den Nagel mitten auf den Kopf getroffen! Was aber das Wichtigste ist- den Neu Boltenhägener hat es gefallen, "hier ist endlich mal wieder was los" war wohl der meistbenutzte Satz an diesem Tag! Vielen Dank an alle Organisatoren!
Brycke (Samstag, 26 Oktober 2019 16:36)
Großes Danke, Birgit, für deine Worte.