Greifswald (SPA): Als ich klein war, also richtig klein, so um die 1,28, fuhr ich mit wehendem blonden Haar und meinem 22er MIFA-Rad an schulfreien Samstagen von der Lohsaer Siedlung ins Lohsaer Dorf (die Grenze bildete die Brücke über die Gleisstrecke der Grubenbahn, auf der die Kohle aus dem Tagebau Lohsa in die Brikettfabrik Knappenrode gerollt wurde), um Brötchen bei der Bäckerei Loos zu holen. Das war meine Aufgabe. Das war meine Routine.
Das Putzige an der DDR: selbst kleinste Beschaffungen wie der samstägliche Brötchenkauf führten zur Bildung einer langen Menschenschlange. Beim Konsum, unter anderem, präsentierten wir uns der kleinen Welt, die uns wahrnahm, als recht geselliges Völkchen. An der Bäckerei Loos, vor deren kleinen Verkaufstresen gerademal vier oder fünf Bürger zum Zwecke des Backwarenkaufs Platz fanden, führte diese Schlange erst kurz nach rechts, dann über das Kopfsteinpflaster der schmalen Straße hinüber zum "Weißen Ross" und dann ein ganzes Stück in Richtung Schulteich und Schule. Ein wenigstens 60-gliedriges L mit Haken quasi. Kam ein Auto oder Moped, alle zwölf Minuten, rückte die Menge zusammen und winkte den Trabi oder das SR2 unter freudigen Grußbezeigungen hindurch. Auf dem Dorf kannte man sich und wurde schon mit Vor-, Zu- und Spitznamen anhand der Motorengeräusche identifiziert, bevor das tuckernde Gefährt auf die lange Gerade in Richtung Bäckerei Loos bog. Mittendrin ich, so um die 1,28, eine von meiner Mutter bereitgestellte Alu-Ostmark jonglierend, die, falls sie auf den Boden schlug, durch ein im Vergleich zur späteren Westmark oder zum Euro trägeres Landeverhalten charakterisiert war. Exakt passend für 20 Brötchen ``a fünf Pfennig - die mussten ja für Frühstücke am Samstag und Sonntag reichen.
In der Bäckerei selbst gestaltete sich das einfach. Für den prästimmbruchigen Spruch "20 Brötchen" gab es DIESE 20 Brötchen und ein Lächeln, nachdem ich mich auf die Fußspitzen gestellt
und die Alumünze in die ausgestreckte Hand von Frau Loos gedrückt hatte. Kein Dinkel, kein Kürbis, kein Franz, kein Roggen, kein Mehrkorn, kein Schinken-Käse, kein Laugen, kein Knusper, kein
Sesam, kein ... die sahen immer gleich aus. Keine Rabattkärtchen, keine Stempel und das Brot, falls denn mal ein Brot mit anfiel, wurde zu Hause geschnitten. Denn wenn wir in der DDR nüscht
hatten - eins hatten wir: ein Brotmesser. Manche sogar eine Brotschneidemaschine. Mit Kurbel dran.
In der großen Stadt Greifswald, in die es mich in den 80ern zog, war das nicht viel anders. Es gab halt nicht nur einen Bäcker und die Konsumzeiten änderten sich, aus rein persönlichen Gründen,
gewaltig. Wenn Hannes im Geo-Keller um vier Uhr morgens den Rausschmeißer "When the music´ s over" von den Doors auflegte, kauten wir hinter der Bar zum letzten Greifenbräu der Nacht Grätsch-Brötchen, die der
immerhungrige Pit kurz zuvor backfrisch aus dem 100 Meter entfernten Laden geholt hatte. Und ein Weg von einer Party in der Fleischerwiese in die Wohnheime, führte uns um Zwei oder Drei an
Marquardts Backstube in der Gützkower Straße vorbei, wo wir nach knackigen Klopfgeräuschen und der Löhnung von zwanzig Pfennigen vier ofenwarme Brötchen in Empfang nahmen.
Mit der Wende Ende89/Anfang90 rollten dann vor der Greifswalder Kaufhalle NORD die CDU-beplanten Kaffeebomber vor. Und zeitgleich, wie sich DAS Volk von diesen die Kaffeepäckchen zuwerfen ließ, wurde es zu EINem Volk. Heute kann EIN Volk Brötchen auch am Sonntag kaufen - Dinkel, Kürbis, Franz, Roggen, Mehrkorn, Schinken-Käse, Laugen, Knusper, Sesam ... und falls Brot: Wie hätten Sie es gerne? Sechs oder acht Millimeter? Rabatt ab fünf, Stempel soundso, das elfte Brot gibt es gratis. Und Bäcker? Witt, Klebow, Rätz, Marquardt und wie sie alle hießen - gibt es nicht mehr. Brötchen von Grätsch können wir noch kauen, allerdings nicht zu einem Greifenbräu.
Derweil rufen einerseits besorgte Patrioten zur besorgten Demonstration gegen die besorgniserregende rotrotgrüne Verbotspolitik auf. Ein Südländer, eigentlich ein Triggerwort für die
angesprochene Zielgruppe, unterstützt vom besorgt-patriotischen Kommunikationsguru Sven Liebig, der sich nicht entblödet, in Fußgängerzonen Schulkindern und Passanten per Megaphon und
liebkosenden Worten das pädophile Potential verbotsGRÜNER Infostände anzumahnen.
Andererseits häufen sich, patriotisch unbeachtet, die Rückrufaktionen. Kontaminationen, Allergene, Reste metallartiger Folien, Listeria monocytogenes, VTEC Bakterien, metallbedrahtete
Leberwurst, Kühlkettenunterbrechung, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, thermophile Campylobacter - allein in den letzten 14 Tagen und schon im Lesen recht schwer verdaulich. Das allesfressende,
selbstverantwortungslose, von grünen Verboten geschüttelte Konsumschwein möchte artgerecht gefüttert werden, nachdem es in dieser schrecklich globalisierten Welt im patriotischen Japaner
vorgefahren war und sich im Slalom durch die Multikulti-Regale eines örtlichen Discounters hetzte. Beim Fressen, nicht bei der Moral, ist jeder sein eigener Patriot.
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Jens (Donnerstag, 12 Dezember 2019 17:27)
Sehr sehr sehr schöner und guter Text! :-)