Greifswald (SPA): Am Sonntag schließt die unterkunftsnahe, mit Rummel, Weihnachtsfloh- und FutterSaufmarkt kombinierte, unterkunftsnahe
Verkaufsstelle für relevante Nadelgewächse überraschend ihre Pforten. Von einem unaufschiebbaren Termin getrieben, fasse ich am 22. Dezember den Entschluss, das erwünschte Bäumchen in einem
Großmarkt am Rande der Stadt zu erwerben.
Allerdings wirken Nachwochenende-Kühlschrankleerstand sowie heimelige Konsumfantasien auf die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung an diesem Montag äußerst mobilisierend. Angesichts eines quasi direkt vor der Haustür beginnenden Verkehrsstaus werde ich binnen weniger Minuten meines letzten rudimentären Glaubens an den Weihnachtsmann beraubt. Einen, der gelassen, locker und flockig den mit Rentieren bespannten Schlitten besteigt und von einem Handelsmann zum nächsten trabt, um das Gabensäckchen zu füllen. Nach einer knappen Stunde im stockenden Verkehr, in der gerade zwei von insgesamt sechs Ampelkreuzungen passiert sind, kapituliere ich. Ich lasse das Seitenfenster hinunter und winke mit einem weißen, unbenutzten Taschentuch, das ich für solche Fälle immer bei mir trage. Wende entnervt den Kombi, in dem vor Fahrtantritt optimistisch die Rücksitze verklappt worden sind und fahre weihnachtsbaumlos an einer hunderte Meter langen Autoschlange vorbei zurück nach Hause.
Um am 23. Dezember einen erneuten Versuch zu starten. Nun mit dem Fahrrad.
Aus transportlogistischen Gründen (Auf- und Abstieg mit aufundabstiegbehindernden Gegenständen) greife ich nach dem Damenrad, dessen Rahmen mit dem Schriftzug „Panther“ gekennzeichnet ist. Ein wegen Mittelstangenlosigkeit ohne Beinüberschwung leicht zu enterndes Zweirad. Auf der anschließenden Suche nach Möglichkeiten, das Objekt der Begierde minder peripher zu erstehen, trete ich den Panther kraft meiner ausgeprägten Beinmuskulatur zick und zack durch die Stadt. Vergeblich. Nach circa zwei Stunden lenke ich mein Gefährt über den völlig überfüllten Parkplatz jenes Großmarktes, dessen Ansteuerung ich tags zuvor verweigert hatte. Am Fahrradständer hauche ich mit kurzen Stößen heiße Luft durch die hohle Hand in den Zylinder des zugefrorenen Schlosses, was mir nach einigen Sekunden die Sicherung des Fahrzeugs ermöglicht. Bei gefühlten minus 30 Grad wende ich mich zunächst dem erstbesten Glühweinverkaufsstand zu. Dann schlendere ich, den heißen Becher vorsichtig zwischen Hand links und Hand rechts jonglierend, in Richtung des weithin sichtbaren Weihnachtsbaumkäfigs. Bis zu jenem Moment wiege ich mich im naiven Glauben, dass nur gefährliche, organisches Material verschlingende Pflanzen einen solch gigantischen Zaun mit einer Höhe von ungefähr zweiachtzig rechtfertigen. Aber Kaufen bildet. Nach dieser ergreifenden Erkenntnis beschert mir ein erster dynamischer Panoramablick auf das Innere des Käfigs ein kräftiges Deja vu. Ich fühle mich spontan an die karge Vegetation meiner Lausitzer Heimat erinnert. Jene, die sich dort in den letzten Jahrzehnten auf den versandeten, nährstoffarmen und rekultivierten Tagebaukippen ausgebreitet hat.
Kiefern!
Ich spähe durch die großzügig und kundenfreundlich angelegten Zaunmaschenelemente auf das Sortiment und zähle genau zwei Exemplare, die meiner in Höhenzentimetern bemessenen und somit arg eingeschränkten Nachfrage entsprechen. Verschämt schleiche ich bei einem letzten Schluck Glühwein um das Gezäun und beschleunige flugs den Schritt, als ich bemerke, dass auf jedes der soeben fixierten Bäumchen mindestens drei potentielle Käufer kommen, die ebenfalls schleichend und offenbar schwer interessiert den Käfig umrunden.
Der Eintritt ist frei. Innen lasse ich die riesigen Bäume, eher für zweigeschossige Foyers und Theatersäle als für ein Wohnzimmer geeignet, links liegen. Durchschreite ignorant auch das folgende Konglomerat von kümmerlichen Pflanzenresten, die sich wohl nur als Tischdekoration oder für eine Installation in Hundehütten anbieten. Dann entdecke ich den bereits von außerhalb des Zaunes identifizierten kläglichen Rest, der stehend eine Höhe von etwa anderthalb Metern erreicht. Greife nach dem ersten Baum. Dieser erscheint einigermaßen kongruent geformt, weist jedoch zu seinen Füßen ein sehr ausgeprägtes Gewirr von Ästen und Astknoten auf. Eisige Gedanken an eine von mir geschwungene, überdimensionale Axt verwerfend, lasse ich diese Kiefer nach wenigen Sekunden bei zwei zeitgleich nach vorn absolvierten Schritten achtlos zur Seite fallen.
Böser Fehler.
Ein in meinem Rücken, quasi im toten Winkel, lauernder Konsument höheren Alters fängt das soeben verschmähte Gewächs im Kippen auf, mustert es zwei kurze Augenblicke lang und begibt sich, es fest im Arm, wild entschlossen in Richtung Ausgang zum Bezahlen. Diese in sich greifenden, so selbstverständlich wirkenden Bewegungsabläufe zeugen in meinen Augen von jahrelang gewachsener Routine und Erfahrung beim Weihnachtsbaumkauf. Ich nehme mir vor, dies zu geeigneter Zeit in einer Retrospektive zu bewundern. Mit dem so induzierten Blick auf die letzte verbliebene Kiefer, realisiere ich, dass die soeben sorglos weggeschenkte Qualität von dem nun fixierten Exemplar nicht einmal annähernd zu toppen ist. Angesichts des allerletzten Baumes, den das Schicksal auserkoren hat, zum heiligen Fest dem heimischen Domizil ein dem Anlass angemessenes Antlitz zu verleihen, kehrt die zuvor so schmerzlich vermisste Entscheidungsfreude in mein Handeln zurück. Ich bücke mich und meine klammen Finger krallen sich mit aller Vehemenz in einen verharzten und arg gekrümmten Baumstamm. Böse Zungen könnten nun freilich behaupten:
Was bleibt ihnen anderes übrig?
Ja, böse Zungen. Doch ich weiß: Einer bewusst gewordenen Serie von Missgeschicken lässt sich durch ein wenig gezieltes Eigenlob sehr leicht entgegenwirken. So nutze ich den kurzen Weg zur Baumkasse für die Ballung einer Siegerfaust, ein paar triumphierende Blicke und Gesten ins Rund sowie einige aufrechte und aufmunternde Worte an mich selbst. Von Mann zu Mann.
Beim Kassierer löhne ich unangemessene 12,50 Euro, klage dabei erfolglos 20 Prozent Skonto für eine Barzahlung ein. Anschließend lasse ich den einseitig mit Ästen ausgestatteten, sehr nadelarmen, im Stammwuchs kurvigen und ein Dutzend paradoxe Richtungswechsel aufweisenden Baum vom Hüter des Käfigs transportkompatibel einnetzen. Begebe mich zum Panther, löse mit einigen heißen Atemstößen die Diebstahlsicherung und strampele mit dem Rad gegen den stark aufkommenden Wind vier lange Kilometer in Richtung Greifswalder City.
Bei der Ankunft hat der Baum in meiner rechten Hand sein Realgewicht von vier auf gefühlte vierzehn Kilogramm exponentiell gesteigert. Meine Finger sind mittels Baumwachs Bestandteil der Kiefer geworden. Eine völlig neue, mir bis dato unbekannte Art von Symbiose. Baum und Mensch. Auf ein Klingelzeichen tritt sie an die Tür und spricht die flüchtige Empfehlung aus, den Baum, wenn er sich denn von mir lösen lasse, in der Garage übernachten zu lassen. Dort entsorge ich das Netz, bringe das Gewächs mit aller Vorsicht in eine senkrechte Stellung und hoffe, dass dieses seine noch verborgene Schönheit bis zum Morgen des nächsten Tages entfalten möge. Um dieser Hoffnung mehr Aussicht auf Erfolg zu verleihen, begebe ich mich direkt auf den Weg in die nahe Apotheke. Kaufe eine 200 Milliliter fassende Tube „Hair Scalp Hair Growth Serum“ und verteile deren Inhalt flächendeckend auf den vakanten Baumteilen. Also über den ganzen Baum. Da sich bezüglich des zeitlichen Wirkungsgrades kein Hinweis des Serumherstellers auf der in neun Sprachen verfassten Packungsbeilage befindet, erbitte ich zum Abschluss des Aufstrichs eine Inkubationszeit von weniger als sechzehn Stunden.
Die tags zuvor und in den nächtlichen Träumen ersehnte Schönheit präsentiert der Baum gegen elf Uhr des 24. Dezember erstmals bei Tageslicht der eingeschränkten Öffentlichkeit. Die in diesem Moment anwesende Familie nimmt diese erste Konfrontation mit den realen Gegebenheiten äußerst sportlich. Beim Einständern und Justieren des Baumes bewirken selbst drei mobile Flügelschrauben keine nachhaltige Minderung der Schiefe. Erstmals in ihrer persönlichen Festbaumschmückhistorie packt sie mehr als die Hälfte ihrer schicken, handgefertigten Dekoration aus Mangel an Platzierungsmöglichkeiten zurück in die Kartons. Später am Abend, kurz nach der Bescherung, herrscht Einigkeit darüber, dass die Lichter noch nie so schön rundherum DURCH einen Weihnachtsbaum schienen. Alle Anwesenden bezeugen in trauter Einigkeit:
Dieser Baum ist einmalig.
Beim Feiertagsbrunch am nächsten Morgen entfleucht den geladenen Freunden weit vor einem bewetteten Zeitfenster von 15 Minuten das Wörtchen „Weihnachtsbaum“. Ich erhalte den Auftrag, die Kaufhistorie zum Besten zu geben.
Die brunchende Runde erlebt die Geburt eines Running Gags.
Mit Ankunft von Ilka mutiert der Baum zum begehrten Objekt der digitalen Fotografie. Ein von mir angefertigtes und vor dem Baum platziertes, deutlich sichtbares Hinweisschild mit der Aufschrift „Fotografieren: 2,50 Euro“ wird von den Anwesenden in schamloser Art und Weise ignoriert. Ebenso die flugs anbei gestellte Kasse des Vertrauens. Dabei hätte deren hinweisschildgetreue Befüllung in vollem Umfang zur Amortisation der für das Gewächs getätigten Auslagen beigetragen. Robert, Betriebswirtschaftler, scheißert vollmundig klug, dass ein mit den Geheimnissen des Nadelbaumkaufs vertrauter Konsument für ein solches Exemplar verunglückter Natur unmöglich einen zweistelligen Betrag löhnen könne. Ein Stück Brunch kauend schiebt Inspektor Falcone unter Abzählung der auf die Fliesen gefallenen Baumsegmente erste Spekulationen darüber an, ab welcher Zahl abgeworfener Nadeln bei einem Weihnachtsbaum von einer Verglatzung gesprochen werden darf. Dies ist ein Diskussionsbeitrag, der wiederum mich schmerzlich daran erinnert, dass das nicht gerade billige „Hair Scalp Hair Growth Serum“ selbst zwei Tage nach dem flächenhaften Auftragen kein sichtbares Wirken hinterlassen hat.
Egal …
… alle haben ihren Spaß! Und zumindest erzielen die Teilnehmer am Ende der sich bis zum Vorabend hinziehenden Veranstaltung darüber Einigung, dass allein mir sämtliche Rechte bezüglich einer Veröffentlichung der Geschichte zustehen.
Vier Tage später, am 29. Dezember, bestückt sie kurz nach dem Aufstehen die Kiefer frisch mit neuen Kerzen und zündet diese an. Der Baum hat binnen der letzten Tage wider Erwarten sehr wenige seiner noch spärlich vorhandenen Nadeln verloren. Er ist nicht gewachsen, aber wachst fleißig und fühlt sich offensichtlich an seinem Plätzchen neben dem stets beheizten Kamin wohl. Sie meint, nun lebe er. Dann dreht sie den Baum um 7,6 Grad. Entgegen dem Uhrzeigersinn.
„So sieht er noch besser aus.“
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