Die Renaissance des pommerschen Wurstorakels

 

 

Greifswald (SPA): Nach jahrzehntelangem Dornröschen-Schlaf feiert ein uralter pommerscher Brauch eine sagenhafte und bemerkenswerte Wiedergeburt. In den Hinterhöfen und Gartenanlagen Greifswalds und seiner Umgebung widmen sich immer mehr Menschen den überlieferten Zeremonien des Wurstorakels

 

Eine erste handschriftliche Erwähnung des Orakels geht auf die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück, als bei einem Grillabend in der Nähe der heutigen Löfflerstraße (damals: Gripeswald) die Aufnahme der Stadt in die Hanse aus einer Wurst gelesen wurde. Mit dem tatsächlichen Beitritt Greifswalds in den Hanseatischen Bund, der ein knappes Vierteljahrhundert nach dieser Voraussage erfolgte, manifestierte sich die Bedeutung des Wurstorakels und bestimmt seitdem die Spiritualität der pommerschen Bevölkerung. Mit einer Liste der nun folgenden Prophezeiungen ließen sich Seiten, ja gar ganze Bücher füllen. Sowohl die Pestepidemie während des Dreißigjährigen Krieges als auch das 1872er Sturmhochwasser, der alljährliche Frühlingsanfang am 20. März oder die Umbenennung der Greifswalder Universität (1933) wurden zum Beispiel durch ein Wurstorakel punktgenau vorausgesagt.

Für eine lange, lange Zeit sollte dieses Umbenennungsorakel ein Letztes gewesen sein. Zumindest offiziell - denn bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, das bereits im Mai 1951 bei einem Wurstorakel in Spandowerhagen, abseits der wichtigen Verkehrstrassen, der Bau eines Kernkraftwerkes ganz in der Nähe des Ortes prophezeit wurde. Ansonsten kam die Spiritualität des Pommern im Allgemeinen, der Gebrauch des Wurstorakels im Speziellen gerade in den Zeiten der DDR de facto zum Erliegen. Kollektivierungsmaßnahmen, willkürlich gezogene administrative Grenzlinien, Wurstlieferengpässe und die rationale Deemotionalisierung der Bevölkerung im real existierenden Sozialismus ließen das völlige Verschwinden des Wissens um einen der wichtigsten pommerschen Bräuche befürchten.


Doch schon mit der politischen Wende zog dieser, zwar mit gedrosselter Geschwindigkeit, wieder auf die Grillgeräte der Einheimischen ein. Bereits im April 1990 lasen Wurstorakelmanager (wie sie jetzt hießen) in der Jahnstraße die Ernennung des bis dahin eher unauffälligen Alfred Gomolka zum Ministerpräsidenten eines neu gegründeten Bundeslandes aus der Wurst. Die Prophezeiung des knappen Wahlsieges Stefan Fassbinders erfolgte gar vier Jahre im Voraus, was beweist, dass heutige Wurstorakelmanager in ihren Kompetenzen beinahe ein Level erreicht haben, das dem der alten Generationen nahe kommt.

Im Zuge der Globalisierung wird sich dabei natürlich nicht nur auf regionales Geschehen beschränkt. Sportive Sensationen wie die PL-Meisterschaft von Leicester City (2016), Promiflash wie die Hochzeit von Heidi Klum/Tom Kaulitz, jedes neue Album von Radiohead oder richtungsweisende Veränderungen der Modewelt, konkret die Inverse Dreiviertelhose, zählen zu den vorhergesagten Ereignissen.

Allen Wurstorakelmanagern sind die Empathie für das zu grillende Objekt, eine hohe Beobachtungs- und Auffassungsgabe sowie die außergewöhnliche Fähigkeit, die Beobachtungen in Zehntelsekundenschnelle per Kopf zu berechnen, gemein. In Mimik und Gestik freilich agieren sie völlig unterschiedlich und schwanken zwischen Euphorie, plötzlicher Emotionalisierung (Höckismus), Skepsis und Lethargie. 


Bei der Anwendung der jahrhundertealten Wurstorakelformel wird zuerst die Länge der Wurstplatznaht durch das Produkt von deren Tiefe und Breite dividiert. Der daraus ermittelte Platznahtkoeffizient wird sowohl mit der Luft- als auch mit der Temperatur im Zentrum des Wärmezufuhrmediums multipliziert, woraus sich zwischen den beiden Ergebnissen eine große Menge Euklidischer Zahlen ableiten lassen. Deren Durchschnitt, berechnet auf die dritte Nachkommastelle, befähigt den Wurstorakelmanager unter Zuhilfenahme des Pommerschen Wurstorakelkalenders, eines der wichtigsten Reliquien des Volkes, das bevorstehende Ereignis vorauszusagen.

 

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