Vom Punk, der via Sylt mit einem 9€-Ticket in die Regionalbahn stieg und in Greifswald strandete, wo ihn die Medien nicht erwarteten

 

 

Greifswald (SPA): Freitagmittag. Feierabend und ich schwinge mich aufs Rad, als das Telefon klingelt. Unbekannte Nummer. "Hallo, Herr Brycke. Fein, dass ich sie erreiche. Degrassi hier. Die Katharina von der OZ. Wir sind alle mit dem Ticket unterwegs. Hautnah. Investigativ. Unter Menschen. In vollen Zügen. Wir alle ... OZ, GTV, Radio 98eins, NDR, Apotheken-Rundschau, BILD, Freie Erde, Frösi. Wir haben einen Anruf aus dem DB-Service-Center am Bahnhof Greifswald. Dort ist ein Punk gestrandet. Übernehmen Sie das? Bericht per Mail. Danke." Und aufgelegt. 

Bis zur Europakreuzung habe ich umdisponiert. Erreiche den Bahnhof über den Wall und stelle mein Fahrrad ab. Da sitzt er. Auf der Treppe. Ich zücke meine Rabatt-Karte vom Lila-Bäcker, halt sie ihm kurz vor die Nase und stell mich vor: "Hannes von der Sorbischen PresseAgentur. Ich soll dich begleiten und ein bissel aufschreiben." Er mustert mich. "Schicken die ´nen alten, weißen Mann?" "Vorsicht.", erwidere ich und streiche mit der Hand durch mein fülliges Haupthaar, "Je nach Kissen habe ich am Morgen mehr Irokesen im Schopf als du dir erträumen kannst, nachdem dir die Frise ein letztes Mal die Maschine an den Kopf gesetzt hat." Er muss grinsen. Dann fragt er: "Haste für den Ulli mal ´ne Mark?" Ich wühl in meiner Hosentasche und finde meinen Korbeuro. Ulli springt auf, greift ihn und nimmt mit den Worten "Ich hol uns mal ´n Bier" geraden Kurs auf den Kiosk. Aus dem er wenig später empört wieder erscheint: "Nichmal een Bier für ´ne Mark." "In drei Minuten ist ALDI." Wir stiefeln los.

Der Zug in Richtung Wittenberge ab Berlin war proppenvoll und Ulli dacht sich: fahr ich halt einen Bogen, um nach Hamburg und von dort nach Sylt zu kommen. Also: Bahnsteigwechsel und in Richtung Stralsund. Da ist schon Meer, hat er mal gehört. Dann kam einiges zusammen: eingeschlafen, mit benommenem Blick auf die Häuserschluchten von Schönwalde aufgewacht, Panik, Lesebrille nicht dabei, schemenhafter, langer, zehn Lettern langer Name am Bahnsteig (Westerland?). Ausgestiegen und sich gefragt: Wo bin ick hier? Greifswald? Kenn ick das? Und dann hat die jute Frau am Schalter gesagt, sie rufe jemanden an. Der sich kümmern würde.

 

Charakterisierung der Spezies Punk aus den 80ern

 

Durch die Rubenow- und Rotgerberstraße lasse ich Ulli fünf Meter vornweg schlendern. Ich habe einen Auftrag und der umfasst, sein gewalttätiges Auftreten, die Verherrlichung anarchistischer Gedanken, seine feindliche Haltung gegenüber unserer Gesellschaft in knackigen Worten zu dokumentieren. Aber Ulli verweigert sich. Passanten, denen wir begegnen, macht er auf dem Gehweg Platz, grüßt und bettelt nicht mal nach ´ner Mark. Die Passanten allerdings drehen sich um, lächeln oder tuscheln: "Hast du den gesehen?" oder "Wo ist der entlaufen?".

An der Ecke Lange Straße schließe ich auf. Ulli summt ein Lied. Ich sage: "NoFX. Stickin in my Eye. Titel 2 auf der A von White Trash, Two Heebs and a Bean. 1992." Große Augen schauen mich an. "Was´n jetze?". Ich weise mit der Hand nach rechts. "Da lang. Und jetzt mach mal bisschen punky. Summ lauter. Pöbele. Gröhle. Schnorre. Saufe. Das Sterni ist noch halb voll. Ich muss einen Bericht schreiben. Du benimmst dich wie eine Reisegruppe aus Marburg. Hier ist Straßenkreide. Male was. Schaufenster und Türen sind hier genug. Lehne aktiv, laut und vulgär den parasitären Imperialismus ab, der dich hier bei jedem Schritt umgibt."

Ulli schüttelt irgendwie den Kopf und läuft, den selben Song summend, los. Ich bleibe hinter ihm und interviewe das normale Volk. Nein, hier ist nichts zu bemerken vom 9€-Ticket. Punks? Nö. Aber hier lief gerade einer vorbei. Der summte, aber sonst: völlig normal. Die Verkäuferin am Douglas, potentieller Hotspot anarchistischer Aktionen kapitalismus- und gesellschaftsfeindlicher Natur: "Alles ruhig. Hier kam gerade einer vorbei. Total friedlich. Hat mich angelächelt. Beinahe putzig. Aber dass Sie hier Bier in der Öffentlichkeit trinken, finde ich unmöglich." An der Bratwursteria zwischen Fischmarkt und Markt: "Der alte Punk eben? Der hat ganz höflich gefragt, ob er sich die Weißbrotscheibe vom Teller nehmen kann, den die Mutter des Kleinen gerade liegenlassen hat. Soll ich da Nein sagen?".

Am Markt lässt sich Ulli von mir einholen. "Sachma, wo ist hier der Strand?" Ich überlege kurz und denke: Nö, bis nach Eldena latsch ich mit dem jetzt nicht. Also sag ich: "Hier. Du hast aber Pech. Es ist gerade Ebbe." Ulli macht wieder große Augen und schaut sich um. "Habt ihr den ganzen Strand zugebaut?" "Ja, das ist das in Stein gemeißelte Antlitz des Kapitalismus." Ich bemerke, die Story ist tot. Überlege noch, das Sterni samt Neige in Richtung Stadtinfo zu werfen, gepaart mit einem Fingerzeig und Ruf Der war´s. Aber nein. Spendiere Ulli eine Lesebrille aus dem DM, dann uns beiden ein Softeis und wir laufen über den Wall zurück zur Bahn. 15:41 Uhr in Richtung Stralsund. Dort wird er umsteigen, so wie später in Rostock und Hamburg auch. Ulli fragt: "Sachma, wie hieß die Band?". "NoFX. Das steht für No Effects." "Haste noch ´ne Mark?".

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ede (Montag, 13 Juni 2022 23:14)

    Klasse Text. Die ganze Chose mal so richtig auf die Schaufel genommen.