Sonnenblumenfelder

 

 

Greifswald (SPA): Gudrun Schmack rutscht auf dem harten Stuhl hin und her. Es juckt und sie reibt sich das Schulterblatt an der Lehne. Seit 17 Minuten scheint ihr das Licht einer 180Watt-Schreibtischlampe ins Gesicht. Mitten in die Augen. Sie blinzelt. "Können Sie mir auch ein Glas Wasser bringen, Herr Kriminaloberkommissar?" Kriminalhauptkommissar Hartmut Steglich-Brand stellt das seine ab, netzt sich die Lippen und wird zum Bad Cop: "Kriminalhauptkommissar, Frau Professorin."

Seit elf Monaten hält der Fall Steglich-Brand und seine Task Force Sunflower auf Trab. Und seit drei Wochen will die Staatsanwaltschaft Ergebnisse sehen. Ergebnisse, Steglich-Brand. Keine Vermutungen. Das kann er rappen. Wie Grönemeyer. Was hatten sie? 157 spurlos aus Sonnenblumenfeldern verschwundene Frauen und Mädchen. Anonymer Hinweis. Immer dasselbe. Mit und ohne Frau auf Instagram. Auf Facebook. Auf Social Dingsda. Keine Vermisstenanzeigen. Keine auffälligen Spuren. Zu viel DNA, zu wenige Treffer. Die SpuSi fand nichts Verwertbares. Außer ein paar umgetrampelte Pflanzen. Dann der Winter und nichts.

Ja, so gewannen sie Zeit, ohne neuen Fällen nachgehen zu müssen. Was bezwecken die Frauen, wenn sie in den Weiten Vorpommerns ein Sonnenblumenfeld betreten? In ihren New Balance-Schuhen (sie haben Abdrücke sichern können) die Hände graziös ins Haar geflochten, den Oberkörper luft bis nur ein bissel gekleidet. Wo ist das Motiv? Mutierten die Pflanzen, verletzt in ihrer Privatsphäre oder paarten sie sich mit gefährlichen Arten wie der Venusfliegenfalle? Und dann, schmack, schmack, einfach gefressen? Das war die Spur, nein, die Vermutung, die ihre Task Force Sun Flower verfolgte. Da sie keine andere hatte.

Bis gestern.

Denn gestern hatte eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Universität Greifswald ihren Zwischenbericht zum Thema "Das rituelle Bewegungs- und Tarnverhalten zwergwüchsiger Paarhufer in den glazial geformten Kulturlandschaften Vorpommerns" veröffentlicht. Konnten die themenbezogenen Erkenntnisse der durch Drittmittel geförderten Studie getrost als bekannt bezeichnet werden, fand sich ein für ihren Fall relevantes Kapitel inmitten der Studie unter 11.3.5.6: Die außergewöhnliche Korrelation von weiblichen Models und Personen, die eine Fotokamera bei sich tragen. Leitung der Studie: Frau Professorin Gudrun Schmack, Geländeanthropologin.

Jene Gudrun Schmack, die nun vor ihm sitzt. Den Schein einer 180Watt-Lampe im Gesicht, die er extra für diese Vernehmung an die Ecke des Tisches montiert hat. Jene Gudrun Schmack, die auf diesem harten Stuhl hin und her rutscht, den er extra für dieses Verhör vom Dachboden des Präsidiums holte. Jene Gudrun Schmack, die ihm gestern bei einer Hausdurchsuchung 87 Stunden Videomaterial überreicht hat, das neun Mitarbeiter der Task Force in einer Nachtschicht gesichtet und ausgewertet haben. Jene Gudrun Schmack, die nun an einem Glas Wasser nippt und allein seit Juli letzten Jahres zur Model-Person mit Fotokamera-Korrelation 27mal in verschiedenen Fachzeitschriften publizierte. Überhaupt besitzt diese Professorin eine enorme Publikationsliste, wie Steglich-Brand in seinen Recherchen feststellen konnte.

"Warum?", fragt Steglich-Brand. "Warum haben Sie nicht reagiert? OZ, Nordkurier, XY ... ungelöst, GNTM, Usedom-Krimi - überall war das Thema. Sie müssen doch etwas mitbekommen haben." "Sie haben doch gestern gesehen, dass ich keinen Fernseher besitze. In der OZ und im Nordkurier lese ich nur den Sportteil. Hätten Sie da ..." Der Kriminalhauptkommissar unterbricht unwirsch: "Lassen Sie! Wo hatten Sie die Kamerafallen versteckt?" Gudrun Schmack bekommt Oberwasser: "Quellenschutz, Herr Kriminalhauptkommissar. Offensichtlich gut genug, dass sie von ihren Spezialisten nicht gefunden wurden." Steglich-Brand denkt kurz über den Tonfall bei Spezialisten nach und notiert radius x 4 auf den Unterlagen der Spurensicherung. Er schiebt einen ausgefransten Fetzen Papier, vielleicht drei mal vier Millimeter, gelb und weiß und schwarz, über den Tisch. "Kennen Sie das?" Gudrun Schmack lässt sich Zeit: "Das könnten die Reste einer Inventarplakette sein. Von einer der Kameras. Kann ich nachprüfen." "Ich bitte darum", kontert Steglich-Brand. "Ich mache auch bitte, bitte", lächelt ihn die Professorin an. Der Kommissar produziert mit seinen Pupillen zwei Fragezeichen. "Naja, WinWin", sagt Gudrun Schmack. "Sie formulieren öffentlichkeitswirksam - OZ, Nordkurier, XY, GNTM, Usedom-Krimi - unter Erwähnung der zwergwüchsigen Paarhufer ihren Abschlussbericht und ich beantrage die Verlängerung der Drittmittel. Kann ich jetzt gehen?"

Kriminalhauptkommissar Steglich-Brand nickt, schließt eine Akte und versieht sie mit einem akkuraten Haken.

 

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