Mathematik sehen und erden lassen

 

 

Greifswald (SPA): Nun geschah es. Überrascht (Überraschungssmiley) vom Absturz der Abiturienten 2021 in den Mathematikprüfungen, einem Punkteschnitt von einer Handbreit über der x-Achse, zog das Bildungsministerium des Bundeslandes MV übers Wochenende die Reißleine aus dem Lot. Indem es den Schülern öffentlichkeitswirksam zwei Punkte schenkte. Gnädig? Einfach so? Türlich, Türlich ... und so erspritzt sich in den Kommentarspalten einiger in der Ursachenforschung gegen die Kreidetafel laufender Leitmedien wie OZ und NK das, was unser aller Solidargemeinschaft prägt: Missgunst, Neid, Häme, Opferriten.    

Zum Verständnis: die zwei "geschenkten" Punkte haben auf den Notenschnitt bei ein wenig Glück Einfluss auf die erste Nachkommastelle. Für die Praxis bedeutet das: Schüler, die mit einer Vorleistung von elf oder zwölf Punkten in die Prüfung gegangen sind, diese mit zB vier Punkten abschlossen, sind entgegen ihren Erwartungen in der Punktetabelle ein Zehntel unter dem anvisierten Schnitt geblieben. 2,2 statt 2,1. In Zeiten, wo für einige Studiengänge ein Numerus clausus vorgesehen ist, ein nicht ganz so unwesentliches Detail. Nun haben Schüler die Möglichkeit, durch die Anmeldung zu einer zusätzlichen, freiwilligen und mündlichen Mathe-Prüfung, dieses kleine Malheur zu beheben. Weil sie sich sicher sind, eine 9er Prüfung hinzulegen. Oder besser. Für diese Schüler hat sich nun mit der Ministeriumsankündigung diese Freiwilligkeit erledigt, da sie durch 2 (Punkte) x 4 (Wertigkeit) wieder um eine Tabellenzeile in den während der Abiturstufe erzielten Gesamtpunkten nach oben gerutscht sind. Verbesserung nicht mehr möglich. Da wurden am Montag einige Prüfungstermine storniert.

 

Ohne die Lernbedingungen eines Jahres vollumfänglich diskutieren zu wollen (die Ursachen liegen ja auch tiefer), war klar, dass das 2021er Abitur ein besonderes wird. Ländersache ist es, darauf zu reagieren. Einige Bundesländer haben dies getan, egal ob sie im Vorfeld vorausschauend (MV-Smiley) Anweisungen zu einer "positiven" Bewertung abgaben oder die Prüfungsinhalte selbst an die erlebten Bedingungen anpassten. In Mecklenburg-Vorpommern müssen die Verantwortlichen (und nicht nur da) bei Otto von Bismarck oder einem namenlosen Murmeltier angefragt haben. Nachdem sich alle beim Gähnen zugesehen haben, wurde termingerecht eine Mathe-Prüfung aus dem Safe geholt, die aus einer völlig anderen Zeitepoche kam. Dem Präcoronaholozän.

 

Aber: diese Prüfung war anders als alle präcoronaholozänen Matheprüfungen zuvor. Die Bearbeitung des hilfsmittelfreien Teils war von 45 auf 90 Minuten erhöht. Neben der Möglichkeit der Abwahl von drei Aufgaben, ähnelte er in seinen Aufgabenstellungen einer Deutsch-Prüfung. Begründen Sie! Beschreiben Sie! Erläutern Sie! Die Länge einer Linie im dreidimensionalen Raum kann folgendermaßen berechnet werden ... Begründen Sie! Der Wert des Terms (Integral) könnte mit Hilfe der Abbildung (Stammfunktion) wie bestimmt werden ... Beschreiben Sie! Begründen Sie, ob folgende Aussagen zu Nullstellen und Extrempunkten wahr oder falsch sind! Erläutern Sie die Abhängigkeiten folgender Komponenten in der Koordinatengeometrie! Immer und immer wieder mit dem Zusatz: ohne rechnerische Bestimmung. Das heißt: jeder Prüfling, der dem antrainierten Begehr nachkam, zum Beschreiben, Begründen, Erläutern mathematische Rechenoperationen heranzuziehen, musste mit Punkteabzug rechnen. Es gab viel Punktabzug. 

 

Und nun kommen wir zum Dilemma des Bildungssystems. Nachdem Mecklenburg-Vorpommern sich nach acht Jahren 2008 aus dem G9 (neun Jahre Abitur)-Experiment verabschiedete, wurden die in den Lehrplänen verankerten und zu vermittelnden Lerninhalte extrem gekürzt. Wirklich? Späßchen (Ironiesmiley). Wir bemühen zwei Bilder für die visuelle Veranschaulichung des nun produzierten Status Quo.
Bild 1: Der Lernstoff aus 13 wurde ab sofort in zwölf Jahren vermittelt. Dazu nahm das Lehrpersonal seine Hände zur Hilfe, um die Inhalte über den berühmten Trichter in die zuständigen Hirnregionen der Schüler zu stopfen.
Bild 2: (auch möglich als Selbstexperiment) Besorge einen Brodkorb (Inside-Doppeldeutsmiley), in den 169 statt 144 Brötchen passen. Mache so lange passend, bis die Brötchen ohne Längsschnitt in jeden herkömmlichen Toaster passen.

 

Wurden während G9 im Leistungskurs (LK) fünf, im Grundkurs (GK) drei Stunden Mathematik vermittelt, verschob sich die Stundenverteilung mit Rückkehr auf G8 erst auf 4/4, um heute wieder bei 5/3 zu landen. Nun führt(e) der Lehrermangel dazu, dass in einer Klasse von möglicher Klassenstärke 30 Jugendliche saßen - 18mal LK, 12mal GK. Vermutlich gibt es kaum Grundkursler in Mecklenburg-Vorpommern, die nach dem Lehrerkommando "Jetzt braucht ihr nicht mehr zuhören" spontan in ein unbeschwertes Daumendrehen gewechselt sind. Die enorme Stofffülle ist dafür verantwortlich, dass jeder Lehrer, jede Lehrerin zu tun hat, den zukünftigen Abiturienten mathematische Algorithmen zu vermitteln. Diese aber wurden in dieser Prüfung mit Punktabzug bestraft (KopfaufTisch-Smiley). Beschreiben, erläutern, begründen - jede Lehrkraft wird stöhnen: What the f**k. Wann? Wir kennen das aus dem Real Life. Jede Kassiererin wird irgendwann in ihrem Leben von einem Kunden befragt: Warum kosten die vier Joghurts, die drei Duplostangen und die BILD insgesamt vierachtzehn. Begründen Sie! Aber ohne Rechnen.   

 

Toitsches Hobby: Basteln von Verschwörungstheorien

Im Hauptteil der Prüfung lagen drei Themengebiete vor den Augen der Abiturienten 2021: Analytische Geometrie, Analysis, Stochastik. Unter den Einschränkungen des letzten Jahres konnte von diesen allein die Koordinatengeometrie in Teilen und in Präsenz vermittelt werden. Der Rest war Stückwerk - über Homeoffice, im Selbststudium oder in den wenigen Schulwochen, die vor Ort in Präsenz möglich waren. Es gab im Übrigen keine Präsenzpflicht in Mecklenburg-Vorpommern. Was heißt: die Lehrkräfte fuhren mehrgleisig. Distanzbeschulung und ggf. geteilte Klassen. Dies wiederum bedeutet, dass das Lehrpersonal während des Unterrichts zwischen zwei Unterrichtsräumen hin- und hersprintete (mobiles Smiley). Mit dem Beamen haben wir es in Mecklenburg Vorpommern auch noch nicht.

 

 



Helden des Bildungswesens beim kollektiven Brainstorming im Internet. Suggestiver Kommentarismus von Bürger*Innen (Triggersmiley), die sich Sorgen um unsere Zukunft und jene ihrer Nächsten machen. Nirgendwo anders bekommt man Vakuum-Komplettsysteme so preiswert und billig wie in den Kommentarspalten des Nordkuriers.

 

Auch die Berufsberatung ist mittendrin.

Zum in der Abiturprüfung abgefragten Stochastikteil sei erwähnt, dass dem Vernehmen nach selbst Lehrkräfte Probleme mit dessen Lösung hatten. Nicht in Präsenzzeiten vermittelt, machte der allerdings nur (Ironiesmiley) ein Fünftel oder 20 von 100 Bewertungseinheiten der gesamten Prüfung aus. Nicht viel. (Begründen Sie, ohne zu rechnen-Smiley). Wie die Analytische Geometrie und die Analysis nicht abwählbar. 

Fazit und übereinstimmende Meinung von frustrierten Lehrer*Innen (Triggersmiley): Hätte die Kommission (Anm.: jene, die die Abituraufgaben erstellten) die Schüler im ersten Teil rechnen und mathematisch mit den vermittelten Algorithmen arbeiten lassen, wäre die Anhebung nie und nimmer nötig gewesen.
P.S.: Die Mitarbeit in der Kommission wird ausgeschrieben. Wer also Abiturienten, zukünftigen Politikern, Schulschwänzern und FFF-Fanatikern mal so richtig einen in Mathe reindrücken möchte, kann doch mal etwas Komplexes einreichen. Eine Tektonikaufgabe vielleicht? Wie ... das ist nicht Mathe? Müssen Sie nicht begründen. 

 


Stabile Popularität in den Argumentationsketten: F und F und F

 

 

Quelle alle Screenshots: Facebook Nordkurier

 

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