Greifswald (SPA): Auf der steten Suche nach Retro-Erlebnissen wagen sich die Hipster der Groß- und Mittelstädte zunehmend aufs weite Land. Bauern aus der Greifswalder Umgebung berichten von bärtigen, eigenartig gekleideten Männern, die sich in einen 312er Wartburg quetschen und dann mit ihren New-Balance-Turnschuhen in den Ställen auftauchen, um Eier zu sammeln, Schweine zu füttern oder ein paar Euter zwischen die Finger zu bekommen. Die Preise für solche Dienstleistungen schossen in den letzten Monaten auf 80€/Person in die Höhe. Die Landwirte lehnen sich zurück, bis die Arbeit erledigt ist und viele unter ihnen sind begierig darauf, von dieser neuen Einnahmequelle zu profitieren. Das Angebot wird vielfälter und angepasst. Beispielsweise gehört es mittlerweile zum Standard, dass die Ställe mit Musik von Arcade Fire oder Primus beschallt werden.
Am letzten Wochenende hatte ich die Gelegenheit, zwei Exemplare dieser Spezies auf einer dreitägigen Wanderung durch Nord-Rügen zu begleiten, die uns auf die Old Main Drag, jenem im Mittelalter
von Löwenzahn, Schwalben und leichten Mädchen (damals wog keines über 42,5 Kilo) geprägten Pilgerweg führte. Diente die Old Main Drag in den Hafenstädten dieser Welt den platten
Vergnügungen Wind und Wetter trotzender Seeleute, so ließ jener in Nord-Rügen dies allein schon wegen seiner kargen Ausstattung nicht zu. So sollen die Vitalienbrüder um Gödike Michels
und Klaus Störtebeker diesen Weg im 14. Jahrhundert dazu genutzt haben, nach ihren Raubzügen innere Einkehr zu finden und sich auf die Suche nach einem namenlosen Gott zu begeben, der
den Lykabas aus der griechischen Mythologie zum Vorbild hatte. Ein Gott, der heute von den Hipstern als der ihre beansprucht wird und der im Himmel in einer schicken Mansardenwohnung in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Odin und Lemmy Kilmister leben soll.
Wir stiefeln also von Neuenkirchen aus über die Lebbiner Holzbrücke auf die Halbinsel Liddow, wo wir die Reste des Rittergutes sehen, auf dem fernsehgerecht Dr. Lennart mit Tochter und Robbie lebte. Am seit tausenden Jahren genehrten Kuschwitzer Haken beobachten
wir ein erstes Mal slowmotionale Anlandungsprozesse, die die Halbinsel an diesem Ort ein wenig größer und im Rahmen einer Gruppenarbeit den Tetzitzer See weniger salzig machen. Nach einer Nacht
am Fuße der Banzelvitzer Berge und unter dem reich besternten Rügenschen Himmel erreichen wir am Vormittag die Gemarkung Ralswiek.
Auch in Ralswiek ist der direkte Weg zu Gott durch eine Werbeschranke (hier: eine mitteldeutsche Biermarke) verstellt.
Zunächst betätigen wir uns am Hipster-Urwitz: How did the hipster burn his tongue? He sipped his coffee before it was cool. Anno 2007 erfunden, gibt es bis heute keinen besseren.
Wir haben viel Zeit und begeben uns zur Ralswieker Kapelle - ein sakrales Bauwerk, wie es nicht besser in die architektonischen Vorstellungen eines Homo Sapiens Hipstericus passen könnte. Auf
einer Musterkirchenausstellung 1907 in Stockholm entdeckt, ließ der hier grundbesitzende Graf von Douglas die Bretter einfach zusammenfalten und auf dem Seeweg nach Ralswiek bringen. Es
ist an der Zeit, mit der Mär aufzuräumen, IKEA gäbe es erst seit Ingvar Kamprad.
Da wir immer noch Zeit bis zur Premierenvorstellung der diesjährigen Störtebeker-Festspiele haben, betätigen wir uns ein zweites Mal am Hipster-Urwitz und gehen erneut in die
Anlandungsbeobachtung. Nun ein weit weniger zeitlupiger Prozess. Menschen, die anschutteln und Rügen an dieser Stelle ein wenig schwerer machen. Bauch, Beine, PoPo. Den Bauch zum
Vor-sich-hin-tragen, die Beine, um in aller Räsche PoPo zu erhaschen. Pommes und Popcorn. Die Vorstellung ist längst nicht ausverkauft, der Adler agiert sehr nervös und nach falschen Anweisungen
aus der Flugleitzentrale fern jeder natürlichen Navigation. Erneut nächtigen wir unter einem prachtvollen Himmel weit außerhalb von Ralswiek.
Sonntags sind wir wieder in Neuenkirchen. Der Gott aller Hipster hat immer noch keinen Namen. Aber er hat uns gesehen.
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