Als Kaurismäki statt einer Eule nach Athen eine Rose nach Lubmin trug

 

 

 

 

 

Greifswald (SPA): Es war im Mai 2019, als das renommierte Meinungsforschungsinstitut SorbInfoTest das Ergebnis einer ungewöhnlichen Umfrage veröffentlichte. 5887 Frauen und 4156 Männer des Nordostens wurden um eine Auskunft gebeten, ob sie freudig die Türe öffnen würden, wenn eine in Liebesdingen werbende Person sich allein für einen Kuss ankündige. Zehntausenddreiundvierzig Menschen des Bundeslandes antworteten mit einem repräsentativen "Ja" und sorgten mit ihrem Bekenntnis dafür, dass die Chefgrafikerin der Ostseezeitung nur einen fetten Balken auf die Titelseite der Gazette malen brauchte.

Und nun hat sich Kaurismäki verliebt. Ausgerechnet in jene Frau, die im Rahmen dieser Erhebung nicht befragt wurde.

Es ist ein heißer Nachmittag im Juli 2022, als Kaurismäki in der Greifswalder Fleischerstraße eine Rose kauft. Daheim deren Stielende in wassergetränktes, saugfähiges Papier wickelt. Die Pflanze in einem Karton verstaut. Bemerkt, dass sich in seinem Geschenkpapierschrank nur mit Rentieren bedrucktes Geschenkpapier befindet. Den Karton alternativ beklebt und mit IHREM Namen versieht. Fünf Treppen hinab zu seinem Fahrrad steigt und das Behältnis absturzsicher zwischen Fahrradsattel und Gepäckträgerschnappelement klemmt.

Kaurismäki, der sich vor jedem von IHR vage angekündigten Rendevouz rasiert, um beim Warten auf dessen Vollzug seinem Gesichtshaar beim Nachwachsen zuzusehen, schwingt sich auf das Rad und beginnt zu trampeln. Durch die Stadt gen Osten. In Richtung Lubmin. Bei 35 Grad Resttemperatur, die von einem auf der Haut brennenden Planeten ausgestrahlt im Hier und Jetzt verbleibt. Kaurismäki trampelt so, dass ihn von der parallel laufenden L26 Autos mit exotischsten Kennzeichen mittels euphorischer Hupsignale anfeuern. Hymnen der Glückseligkeit. Oden an die klimaunneutrale Mobilität. BZ und HB. BLK. Oder NVP. Das Zeitfenster ist eng, denn die Lieferung soll zwischen 16:30 und 17:30 am Zielort sein. Allein, um IHR nicht zu begegnen.

Hinter Kemnitz kreuzt er die Straße und schleppt sich, als Mann, der eine Fahrradschaltung stur negiert, die nun anstehende Steigung durch das Dorf hinauf. Jede(r), der sich jemals dieser Anhöhe, diesem Monument einer glazialen Laune, auf einem Drahtesel stellte, weiß: DAS ist der Col de Tourmalet Vorpommerns. Bloß ohne Serpentinas. 50 Meter vor dem Gipfel, beginnt sich Kaurismäki anzufeuern: "Quäl dich, du Sau!". Auf dem Gipfel sind 36 Grad und die Sau tot. Weit und breit kein Horn, das bläst. Sie rollt vom Rad in den Straßengraben. Berappelt sich. Nestelt an und in ihrem Rucksack, um das zu finden, was sie in einem ihrer hellen Momente vor der Abfahrt dort verstaut hat. Eine Halbliter-Flasche Wasser. Sie setzt diese an. Wird wieder Kaurismäki, während am Firmament Marco Pantani erscheint. Fast nicht erkannt, mit diesem Sonnenhut. Der hebt den Zeigefinger und ruft: "Kaurismäki, werd klüger. Sei sparsam mit allem. Auch mit dem Getränk.

Mit einer halbgeleerten Halbliterflasche Wasser im Rucksack schleudern sich Kaurismäki, Rucksack, Rad, Karton, Rose in einer Teiletappe über den wurzeldurchzogenen Radweg nach Loissin. Highspeeden sich auf einem nagelneuen Radweg nach Gahlkow. Dort in die Weststraße und hinüber nach Vierow. Wieder leicht bergauf und die letzten Geraden mit dem Wind von der Seite nach Lubmin. Das Zielobjekt hat er nach 56 Minuten erreicht. Zehn Minuten nach der Öffnung des Zeitfensters.

 

Kaurismäki greift den Karton aus der Klemme. Reibt noch ein wenig die alternative Beklebung fest und sucht nach einer Abstellmöglichkeit. Findet sie auf einer Bank und sieht SIE, die im Rahmen der Erhebung nicht befragt wurde, auf dem Hinterhof nahen. Unerwartet. Hastig befiehlt ihm der Hat-SIE-mich-etwa-gesehen-Reflex die Flucht. In den Stand kommt diese erst an einer Bushalte am Lubminer Ortsausgang. Nun sieht sich Kaurismäki von Kaurismäkis Reflex überrascht und traut sich, mit einem Atmen zu beginnen. In Schwarz. Und in Weiß. Pause. Wasser. Inhaliert in einem Nach-Denken versunken die einzige und letzte Zigarette. 37 Grad. Wasser. Flasche leer. Und eine Nachricht: "Post! Auf der Bank." Senden.

80 Watt ruhiger trampelt er zurück in Richtung Greifswald. Kommt in Gahlkow auf die absurdeste aller Ideen und transferiert sich in einem rechten Winkel auf den deutlich längeren Boddenweg. Auf versorgungsfreie 20 Kilometer. Wo kein Konsum ist, ist nichts zu konsumieren. Wo kein Restaurante ist, ist nichts zu restaurieren. Er tunkt seine Beine kurz hinter dem Loissiner Campingplatz ins algenvergrünte Wasser, passiert die geschlossene Gaststätte am Ludwigsburger Strand und steht fortan im Wind. Straff von vorn. Er macht sich aerodynamisch. Macht sich klein. Bei 38 Grad. Rollt ein gefühlte Stunde später den Tourmalet hinunter und sieht Kemnitz. Hinter Kemnitz sieht er Kemnitz hinter sich und vor sich ... sehr viel Weg. Waden hart, Oberschenkel brennen, Mund trocken, Heck ... lma. Kugeleisstation Eldena: Ich nehm drei: Mango, Waldmeister, Eierlikör. Pizzastation Wolgaster: Wrap Italienisch. Zum Mitnehmen. Wie lange? Drei Minuten? Hol mir nebenan noch ein Wasser.

19:30 Uhr. Zu Hause. Just in diesem Moment WA-Signal vom Handy. Ein Feedback von IHR, die im Rahmen der Erhebung nicht befragt wurde.
"Dankeschön. Warst du hier?"

Die Eule ist in Athen.

 

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