Greifswald (SPA): Am 28. Oktober ist es wie in jedem Jahr soweit. Während überall auf der Welt kleine und große Kinder beginnen, die Schneeschuhe für den Nikolaus zu putzen, wird Helga Radtke, pensionierte Lehrerin aus der Greifswalder Fettenvorstadt, die Musikanlage aus dem Schuppen holen, diese entstauben, sich ein paar weiße Handschuhe anziehen, eine, ihre einzige, 60er ORWO-Kassette in das Kassettenfach schieben und die Play-Taste betätigen. Dann wird sie "Last Christmas" von Wham! hören. Bis weit in den Januar.
Seit 1987 ist es Tradition im Hause Radtke, dieser Kassette im weihnachtsumschließenden Quartal zu lauschen. Neben der Original-Single-Version sind auf dem Tonträger unter anderem auch der
12-Zoll-Brain-Demolition-Mix und die 28minütige Falsom-Blues-Variante des Hits enthalten, bei welchem einige Samples von Johnny Cash verarbeitet sind.
"Ich kann einfach nicht genug davon bekommen", sagt Helga Radtke. "Bereits im August, wenn in meinem Lieblingsdiscounter Lebkuchen und Schokoladenweihnachtsmänner in der Auslage
erscheinen, kann ich es kaum erwarten und ertappe mich immer wieder dabei, wie ich das Lied vor mir hinsumme. Manchmal auch "Fast Christmas". Sie verstehen? Bilingual."
Radtkes größter Traum ist es, George Michael mal in der Hölle zu besuchen. "Ich möchte wissen, ob George immer noch singt und ob dieses Kunstwerk in einer anderen Umgebung nichts von seiner
Aktualität und bei Harfenbegleitung, die haben doch Harfen, oder (?), auch nichts von seiner brachialen Rhythmik eingebüßt hat." Es sei ihr ein großes Anliegen, so die ehemalige Musik- und
Kunstlehrerin an einem Greifswalder Gymnasium, zu erfahren, ob es in der heutigen Zeit noch Kunst mit einer längeren Halbwertzeit als einer schnöden Vier-Minuten-Single gäbe. Die
Bildungseinrichtung jedenfalls habe sie, die nebenbei die Fluchtwege auf den Schulfluren kennzeichnete, in einem desillusionierten Zustand ob des zunehmend sphinxartigen, huschelhaften
Kunstverständnisses der plagenden Geister verlassen.
Auch Helga Radtkes Kinder führen diese Familientradition weiter. Allerdings mit einer Compact Disc statt der antik anmutenden Kassette. "Es war immer etwas Besonderes, Mama mit
einer Glühweintasse in der Hand, beim Geruch von Zimt und einer auftauenden Tiefkühlente zu diesem Lied abroggen zu sehen. Mir selbst war bis zu meinem 22. Lebensjahr nicht einmal bekannt, dass
es noch andere Weihnachtsmusik als diese von Wham! gibt", bekennt ihr Sohn Helge aufrichtig. "Noch heute fällt es mir schwer, in den Geist der Weihnachtszeit einzutauchen, bevor ich
nicht diesen markanten Drum-Einsatz in "Last Christmas" gehört habe."
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Susi F. (Dienstag, 25 Oktober 2022 16:47)
Nicht, oder?