Die Lehrermangel - Teil 1: Die Bewerbung

 

 

Greifswald (SPA): Jedes Jahr dieselbe Prozedur. Plätschern sie auf Ewigkeiten überproportional in den Sommermonaten durch den dicht bewachsenen Medienwald, so bekommen die Bürger diese Schlagzeilen mittlerweile auch in kleinen, verdaulichen Häppchen quer durch´s Anno präsentiert. Thema: DER Lehrermangel. Dafür wurde viel Papier in den Rhein, die Neiße, die Warnow oder die Schwarze Elster gelassen. Stromaufwärts ... das macht Sinn. In dem der Prozedur.

Es ist nicht das ursprüngliche Anliegen von Brycke, unerlässlich zu wallraffen. Aber in diesem Fall begeben wir uns so undercover, dass es undercoverer nicht geht. Das versetzt uns in die Lage, über die parallel-dunkle Seite dieser für dieses Land so peinlichen Problematik zu berichten. Wir werden stückeln müssen und sind zu wenig Nostradamus, um am heutigen Freitag zu prophezeien, wie viele Teile dieses Trauerstücks es geben wird. Denn das zugearbeitete Material ist schier unerschöpflich. Sodenn ... massiert eure Augenbrauen, elastiziert Wangenknochen und Münder, messt regelmäßig den Puls. Brycke präsentiert ... Tusch ... DIE Lehrermangel.

Irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, Sommer 2022. Lehrer I.S. befindet sich im 24. Jahr einer Lehrtätigkeit. Drei davon an verschiedenen Schulformen, der Rest bei nichtstaatlichen Trägern der Berufsbildung. Nun seit fast 19 Jahren in der Arbeit mit Jugendlichen, denen fast ausnahmslos eine Förderung nach SGB zuteil wird. Junge Menschen mit vielfältigen, vornehmlich psychischen Handicaps, die damit quasi eine letzte Chance auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt bekommen. Das lässt sich der Staat mit Sätzen zwischen Zwei- und Dreitausend Euronen per Monat etwas kosten. Bevor jetzt jemand den Taschenrechner hervorholt: Ja, das ergibt in der Summe von drei Ausbildungsjahren einen richtig dicken Batzen. Aber wir haben schon in einem früheren Beitrag darauf verwiesen ... die allgegenwärtige Ökonomisierung der Gesellschaft geht mit einer Ökonomisierung der Bildung einher. Konkret heißt das: werden nach der "erfolgreichen Maßnahme" ein Autist oder eine Borderlinerin mit 22 Lenzen und Facharbeiterabschluss dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert, erreichen sie nach circa 20 Sonnenumdrehungen den Break-Even. Das ist etwas, in das sich Christian Lindner öfter verliebt als in sich selbst. Und es verwirklicht die Richtlinien der OECD, denen sich nahezu alle Industriestaaten unterworfen haben und die mit ihrem Wording den Soundtrack für die Entmenschlichung in diesem System und damit auch im Bildungswesen vorgeben. Schon im Editorial dieser Organisation ist mehrfach nachzulesen, wie der Mensch unter dem knackigen Begriff Humankapital seine Ökonomisierung erfährt. 


Dieser an Zahlen und Kosten statt an Inhalten orientierte Trend hält auch in jenem Unternehmen Einzug, in dem Lehrer I.S. seit 2004 seinem Tagwerk nachgeht. Es beginnt mit der Aufblähung der Führungsebenen, die sich dann oben beginnend nach und nach vom mantraartig kommunizierten Kerngeschäft verabstandisieren. Während die ewig gleichen, seit einem Jahrzehnt in der Belegschaft diskutierten Probleme in Workshops und Arbeitsgruppen zerredet sowie ergebnislos pulverisiert werden, bildet sich eine glühende, fette Corona von Angestellten, denen aus dem proportional kleiner werdenden Teil jener Mitarbeiter, die täglich an den Jugendlichen, an den Menschen sind, zugearbeitet werden muss. Unter dem Vorwand, die Dokumentation erleichtern zu wollen, wird ein digitales Programm eingeführt, das mit 50, 60, 80 Items entindividualisiert, entmenschlicht, anonymisiert, humankapitalisiert. Die Kommunikation wird von persönlich auf digital umgestellt. Zuerst stirbt das Unter-x-Augen-Gespräch, dann das Telefonat - die eMail hat Hochkonjunktur. Selbst über das Dokumentationsprogramm haben ausbildungsferne "Mit"arbeiter die Möglichkeit, über den Button Aufgaben solche in die unteren Ebenen zu delegieren. Dazu kommt der Druck, der über Schlüsselzuweisungen (zB Anstieg von 1:50 auf 1:75 für einen Lehrer), nicht deckende Kostensätze, Nebenausgaben, Entscheidungsnebel, Nontransparenz ... ausgeübt wird. Wer erfahren möchte, wie ein Prozess vonstatten geht, in dem zuerst die Auszubildenden, dann die Mitarbeiter verwaltet werden, wir hätten da einen Tipp.

Der unmittelbare Aufgabenbereich des Lehrers I.S. ist relativ klar abgesteckt. Zwar muss er in dessen Rahmen oft spontan agieren, kann jedoch sehr autark arbeiten. Zudem spielen zwei Dinge keine Rolle, die gegenüber dem Schuldienst ein großes Plus sind: der Verzicht auf Zensuren und der keine Rolle spielende Faktor Zeit. Die berufsschulbegleitende Betreuung und Prüfungsvorbereitung beginnt mit Tag Eins der Ausbildung, mit bis zu 32 Wochenstunden in den Handicaps geschuldeten kleinen Gruppen, einem Anteil von über 90% im Fach Mathematik und einer Klientel, in der genau diese Mathematik eines ist: angstbesetzt. Aufgrund eines Rücksacks von steten Misserfolgserlebnissen, den diese jungen Menschen in neun bis elf Jahren Schulzeit vollgepackt und nun in den nächsten Lebensabschnitt zu schleppen haben. Egal, ob Lehrer I.S. mit Mediengestaltern typografische Berechnungen kleinteilig behandelt, den Holzwürmern die Anwendungen des Pythagoras am Dachstuhl erläutert, Verkaufshelfern fachpraktische Übungen mit Geld- und Volumeneinheiten vermittelt oder mit Zierpflanzengärtnern dreigeteilte Flächenberechnungen am Rundbeet vornimmt ... nie kommt er umhin, die Lücken aus den Klassen 6, 7 oder 9 in der pyramidischen Hierarchie der Mathematik mit grundlegenden Skills zu kitten. Hier und auch im restlichen guten Dutzend der von ihm betreuten Berufe besitzt all dies, so wenig sinnvoll dies erscheinen mag, höchste Prüfungsrelevanz. Es gibt junge Menschen, die kraft ihres Talents nach vier, sechs Wochen praktischer Ausbildung eine astreine Kreuzüberblattung von der Werkbank zaubern. Aber drei Jahre in der Angst leben, die Fachtheorie nicht zu bestehen, da sie die Fläche eines Scheunendachs bei gegebener Breite, Länge, Höhe nicht berechnen können.   

Im Juni 2022 beginnt sich Lehrer I.S. nach Alternativen umzusehen und findet die Ausschreibung einer Regionalschule für den Unterricht in den Fächern Mathematik und Geografie. Er sendet seine Unterlagen ein und wird sehr schnell zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Dort schildern ihm fünf gestandene Lehrerinnen die monatelange, händeringende Suche nach einer Mathefachkraft. Er kann einen Diplomlehrerabschluss für Geographie und sechs Semester Lehrerstudium mit den entsprechenden Prüfungen in Mathematik vorweisen. Mehr Semesterwochenstunden als jeder Absolvent dieser Fachrichtung in den 20ern des 21. Jahrhundert. Er brach kurz vor der Wende nach sechs Semestern ab, da er ein Forschungsstudium in der Geografie angeboten bekam. So fehlen ihm zwar die Abschlussprüfungen in Mathe sowie das dazugehörende Referendariat, aber bei über zwei Jahrzehnten Lehrtätigkeit in diesem Fach - kein Problem wird gesehen. Seine Prämissen formuliert Lehrer I.S. sehr klar: (auch) Einsatz im Fach Geografie und keine finanziellen Einbußen im Vergleich zu seiner jetzigen Arbeit. Man verabschiedet sich optimistisch und schon in der darauffolgenden Woche teilt er seine Entscheidung der Schule mit: Ja. Und nun wird sein Bewerbungsgesuch mit dem Einstellungswunsch durch diese an das zuständige Schulamt weitergegeben.

Die deutsche Sprache ist wie alles im Deutschen sehr korrekt, präzise, auf den Punkt. Ein Fakt, der sich auch wie ein warnend roter Senkel durch die Begrifflichkeiten des Bildungssystems schnürt. erZIEHEN. BILDung. UNTER-RICHTEN ... Ein Sachbearbeiter heißt Sachbearbeiter, weil er Sachen bearbeitet. Würde er Menschen bearbeiten, dann ... Mit der Übergabe des Einstellungsgesuchs in die Sachbearbeitung des Schulamtes ist Brycke gezwungen, dem Lehrer I.S. eine zweite Rolle zuzuweisen. In den nächsten Teilen werden wir demnach doppelrollig nicht nur vom Lehrer, sondern auch von der Sache I.S. berichten. Es ist uns bewusst, dass dies nicht den Lesegewohnheiten entspricht und auf unserem Blog, vermutlich nicht nur auf diesem, etwas Erstmaliges darstellt. Aber es wird viel Zeit geben, das zu üben.

Teil 2 ... hier

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Pipi (Freitag, 14 Juli 2023 21:15)

    Klingt wie “Ihre Mission, wenn Sie sie annehmen…”
    Diese Nachricht wird sich allerdings nicht in fünf Sekunden selbst zerstören!