Greifswald (SPA): Nur einen einzigen Tag später erhält Lehrer I.S. ein neues Einstellungsangebot. Seine "Erfahrung" erhält in diesem eine Stufenkorrektur auf "3". Das mit der Kündigungsfrist hat die Koordinatorin Lehrereinstellung allerdings immer noch nicht voll erfasst, denn das Angebot bezieht sich auf einen utopischen Arbeitsbeginn zum 1. Oktober.
I.S. recherchiert erneut in den im Netz verfügbaren Gehaltstabellen zwecks Abgleich zu seiner Prämisse: keine finanziellen Einbußen gegenüber dem Verdienst bei der jetzigen Arbeitsstelle. Problem
ist, dass im www ein Dutzend dieser Auflistungen zu finden sind, mit zT recht stark abweichenden Angaben. Auf der Seite des Bildungsministeriums findet er zudem Fallbeispiele für eine Eingruppierung. So u.a.:
"Frau X (32) hat einen Master in Biochemie. Aus den nachgewiesenen Studieninhalten ist erkennbar, dass Sie Kenntnisse zum Unterrichten in dem Fach Biologie besitzt. Damit ist sie in die E 12 eingruppiert. Sie besitzt sogar für ein weiteres Fach, die entsprechenden Kenntnisse, dies ist jedoch für die Eingruppierung unerheblich."
Er checkt das für sich durch und fragt telefonisch bei den Frauen L. und V. in der Sachbearbeitung nach. Ähnlich den Kolleginnen beim Vorstellungsgespräch wird auch von da auf die sofort mögliche Beantragung der Lehrbefähigung Mathematik verwiesen, deren Erteilung bei den bestätigten Studieninhalten, den absolvierten Prüfungen, drei Jahren Mathematikunterricht an einer Realschule, einem Gymnasium, einer Sonderschule für Hörgeschädigte sowie über 20 Jahren in der Berufsbildung mit Schwerpunkt Fachmathematik kein Hindernis biete. Es gebe allerdings ein Gesetz, dass die Anerkennung für Tätigkeiten unter anderen Trägern als den staatlichen erschwere. Auf der eben erwähnten Webpräsenz des Ministeriums hat die Sache I.S. mit Gesetzestexten, Paragrafen, Links und Klauseln gespickte Abhandlungen gefunden, bei deren unsicherer Interpretation er nun den Leuten vertraut, die seiner Ansicht nach diesbezüglich geschult sein sollten und diese Kompetenzen in aller gebotenen Sorgfalt auch anwenden. Und bei gutem Willen gäbe es immer Wege. So erhält er am 28.09. durch Frau L. folgende Mail:
Dass diesem Antrag Nachweise über vorherige Dienstzeiten, beglaubigte Kopien der Hochschulabschlüsse, Zeugnisse und Qualifikationen sowie ein tabellarischer Lebenslauf beizulegen sind (und damit Unterlagen, die dem Schulamt längst vorliegen), nährt die Vermutung, dass jeder Mitarbeiter dieser verworrenen Behörde so einen schicken, eigenen I.S.-Stapel auf dem Schreibtisch platzieren möchte.
Keine 24 Stunden nach diesem Kurzantrag fliegt in einer Mail der Arbeitsvertrag, gültig ab 1. November, ein. Am Day after, dem letzten, der dieses Einstiegsdatum ermöglicht, telefoniert der
Lehrer I.S. mit der zukünftigen Direktorin. "Ja, wir brauchen Sie wirklich und auch sofort." Er bringt seinen vorbereiteten Antrag auf Aufhebung des Arbeitsverhältnisses ins Sekretariat
und verzichtet damit auch auf die am Ende des Jahres anstehende Bonuszahlung. Denn die gibt es nur für Leute, die ein ganzes Kalenderjahr im Unternehmen durchhalten.
Die schriftliche Fassung des Vertragswerkes zieht die Sache I.S. in der darauffolgenden Woche aus dem Briefkasten. Er hegt tiefste Bewunderung für den Zusteller, der diesen stattlichen Stapel
Papier knitterfrei durch den für solche Art von Zustellungen nicht konzipierten Kastenschlitz geführt hat. I.S. luschert mal kurz rein, von oben so mit zwei Fingern, und entschließt sich, das
Schreiben wie einen Barolo zu behandeln und es erstmal zwei Tage zum Atmen beiseite zu stellen. Danach Entnahme. Zig Belehrungen. Zig Unterschriften. Zweimal muss sein beruflicher Lebenslauf
(digital liegt er ja bereits vor) per Hand erneut dokumentiert werden. Was bei über zehn Arbeitsstellen und zu kleinen Tabellen mühsam, zeitraubend und nur unter Anheftung weiterer Beilagen
möglich ist. Es werden weitere Unterlagen und Dokumente eingefordert: polizeiliches Führungszeugnis, seine Geburtsurkunde (allein deren Suche/Finden gäbe Stoff für ein weiteres Kapitel) und die
seiner beiden erwachsenen Kinder, ein beglaubigtes Abiturzeugnis und zig Unterlagen zum x-ten Mal, der Nachweis über Masernschutz etc..
Neben den steten Telefonaten begibt sich die Sache I.S. mehrmals auf die langen, verwinkelten Flure des Schulamts, begehrt Einlass in von Computern, Akten und Sachbearbeitern gefüllte
Arbeitskabinen, um Dinge zu hinterfragen, abzugeben, in den Briefkasten zu schieben. Er ist beschäftigt nach der Arbeit. Die Geburtsurkunden seiner Kinder treffen eher ein als er die seine
gefunden hat. Bei seiner Hausärztin lässt er sich kostenpflichtig einen gefühlten Liter Blut abnehmen, der kostenpflichtig in einem Labor auf Masernschutz untersucht wird. Er trifft die
Direktorin beim Einkauf in der großen Stadt und die sagt: "Was? Masern? Sie sind doch längst über der Altersgrenze. Das hatten wir doch in der DDR in der Grundausstattung." Das war ein
Versehen, so Frau L. Bei einer der persönlichen Audienzen bei ihr erhält der Kurzantrag auf Lehrbefähigung eine kleine Modifikation: kann sofort nach Einstieg in den Schuldienst gestellt werden,
da die Schule ja auch Stellung nehmen müsse. Aber keine Sorge, der Tag der Antragstellung ist maßgebend für alle anstehenden Entscheidungen bezüglich Eingruppierung und damit Nachzahlung.
Parallel zu dieser wenig angenehmen, aber körperlich und geistig fit haltenden Lauferei verbringt I.S. seine letzten Tage in einem Bildungsunternehmen, in dem er fast zwei Jahrzehnte wohnhaft
war. Zum Wertewandel dieses Betriebes gehört, dass Mitarbeitern, die aus eigenem Antrieb wegen Neuorientierung oder anderen Gründen gehen, der Stempel "Gegen uns, nicht Freund"
angeheftet wird. Eine Verabschiedung durch die Geschäftsführung kommt aufgrund unüblich nicht in Frage (üblicherweise wird man aus betrieblichen und Kostengründen oder in die Rente entlassen),
von der Genehmigung des Aufhebungsvertrages erfährt er so aus dem Lamäng, im Nebenher, zugefallen, als ihm die Nachfolgerin zur Einarbeitung benannt wird. Sein Begehr nach einem Qualifizierten
Arbeitszeugnis wird trotz vorsichtiger Bohrungen ignoriert. Im Moment der Abgabe eines letzten Schlüssels trifft er im Sekretariat, erneut zugefallen, die linke und gleichzeitig rechte Hand des
ganz großen Chefs des Betriebes, der sich nun aufgrund komplexer Verflechtungen Konzern nennt. Man kennt sich, man unterhält sich, man tauscht sich über Diskrepanzen aus, über Gründe einer
unüblichen Kündigung. Der eine als Ökonom mit begrenzter Empathie für menschliche Belange, der andere als Mensch mit begrenztem Verständnis für betriebswirtschaftliche Zusammenhänge. Die
abschließenden Worte: "In zwei Wochen, versprochen, hast du das Arbeitszeugnis." Gesprochen am 28. Oktober 2022, gegen 12 Uhr. Heute ist der 17. Juli 2023 und diese zwei Wochen sind die
längsten in der Geschichte des Gregorianischen Kalenders.
In der Woche danach, der ersten im November, ereignen sich die ersten Arbeitstage an der Regionalschule. Den angekündigten "langsamen Beginn" kann er knicken. Zweimal im Unterricht bei
einer anderen Lehrerin zum Gucken dabei (danach seine, I.S. sagt, interessanten Vorbereitungen zum Thema Afrika entsorgend), dann ist der Lehrer I.S., noch mit einem Dutzend
Förderstunden im Tableau, einer der ersten Ansprechpartner, der bei enormen Personalausfallzahlen Vertretungsstunden übernimmt. Fachlich kein Problem, spontane Ansagen ist er von den Azubis noch
gewohnt. Für die Lehrbefähigung ist nun nicht allein die Stellungnahme der Schule erforderlich - auch plötzlich Hospitationen, auf denen dieses Statement beruhen möge. Kurz bevor diese ersten
Termine anstehen, legt ihn eine Corona-Infektion quarantäne Hospitationsfesseln an. So geht der November schnell vorüber. Am Ende des Monats kommt das erste Gehalt. Und das ist hart. Prämisse
minus 300 (netto). Er verspürt akuten Gesprächsbedarf und dabei wenig Lust auf Sachbearbeiter. I.S. muss an die Spitze des Eisbergs, an die gülden umrandeten Spalten des Organigramms aus der
Hölle. In der Schulaufsicht und Beratung zum Beispiel um offene Ohren werben. Er holt sich Rat. Bei der Schulleitung, bei Freunden, die in irgendeiner Funktion an der Uni der großen Stadt, im
schulischen Qualitätsmanagement, an anderen Bildungseinrichtungen des Amtsbezirkes tätig sind. Der Name B. ist auffällig genannt entsprechend den Erhebungen zur absoluten Häufigkeit. Herr B.,
Schulrat. Und ein vielmundiger Tipp: nimm Honig mit.
Herr B. ist kaum entbehrlich. Sache I.S. diskutiert durch den Dezember ergebnis- und verständnislos mit Sachbearbeiterin L., Lehrer I.S. bekommt uneingeschränkte Unterstützung von Schulleitung
und Kollegium. Ein sehr nettes Kollegium, bei dem er bemerkt, dass irgendwo zwischen zehn und zwanzig Prozent ebenso in Streitigkeiten mit der Verwaltung verstrickt sind. In anwältlicher
Vertretung. Es geht um Einstufungen, Gruppierungen, Anerkennungen, Qualifizierungen, Jahre, Monate, Fachlichkeiten. Um Nerven, Geduld, um neben dem laufenden Schulbetrieb vergeudete, fachfremd
verschwendete Energie. Die Hospitationen werden durch Lehrer I.S. ohne Bedenklichkeiten absolviert. Der Antrag auf seine Lehrbefähigung wird Mitte Dezember verschickt. Herr B. bestätigt doch noch
einen Termin. Am Nachmittag des letzten Schultages des Jahres 2022. Die Sache I.S. besorgt sich Honig. Einen ganzen Eimer. Und trägt ihn am 21. Dezember und in unserem Teil 4 ins
Büro des Schulrates.
Kommentar schreiben